Die SPD ist gegenwärtig eine Partei, in der jemand wie Wowereit selbst für hauptstädtische Verhältnisse als alternativlos zu gelten hat. In diesem Jahr hat sie allerdings einiges zu feiern – ihr hundertfünfzigjähriges Bestehen, den hundertsten Todestag August Bebels und den hundertsten Geburtstag Willy Brandts, außerdem ihr „Nein“ zum Ermächtigungsgesetz im Reichstag 1933. Otto Wels damals: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“ – Es erschiene ihr historisch also höchst paßrecht, würde die geschichtsträchtige Partei dieses Jubiläumsjahr mit einem Wahlerfolg krönen.
Die ehemals größte Arbeiterpartei verfügt über kein klares Gründungsdatum. Ihrem Selbstverständnis nach leitet sie sich von der Gründung des „Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins“ unter Führung Ferdinand Lassalles her – am 23. Mai 1863 im Leipziger Pantheon. Der preußisch-nationalstaatlich denkende und charakterlich ungestüme Lassalle kam allerdings schon ein Jahr später 39jährig ums Leben. Er hatte sich mit seinem potentiellen Brautvater duellieren wollen, der ihm den Zugang zu seiner Tochter verwehrte, die Lassalle ganz klassisch während eines Kuraufenthalts kennengelernt hatte. Der Alte Herr des Corps Rhenania Bonn bot an seiner Statt allerdings den Wunschschwiegersohn, einen rumänischen Bojaren, auf, der Lassalle erschoß – die ganze Geschichte ein novellistischer Stoff.
Wichtiger aber: Mit der unter Führung von August Bebel und Wilhelm Liebknecht 1869 in Eisenach gegründeten „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei“ (SDAP) etablierte sich ein maßgeblich vom Marxismus inspirierter linker Flügel. Die Konkurrenz der „Lassalleaner“ und „Eisenacher“ endete 1875 in der Vereinigung beider auf dem Gothaer Kongreß mit dem von Marx kritisierten neuen Programm der „Sozialistischen Arbeiterpartei“ (SAP), die sich nach überstandenem Sozialistengesetz 1890 den Namen SPD gab.
Zwischen Kampf und Kompromiß
Während des Sozialistengesetzes von 1878 bis 1890 mußten zwar zahlreiche Sozialdemokraten ins Gefängnis, wurden ausgewiesen oder verloren ihre Existenz, aber die Tätigkeit ihrer Reichstagsfraktion konnte ungehindert fortgesetzt werden, die Zahl der Wähler verdreifachte sich, und die SPD wurde die relativ stärkste Partei. So demokratisch war das als Obrigkeitsstaat geschmähte Kaiserreich dann doch. Bismarcks Sozialgesetzgebung und der demokratische Erfolg stärkten zudem den revisionistischen Flügel um Eduard Bernstein, so daß die Partei mit knapp 35 Prozent der Stimmen 1912 mit 110 Abgeordneten die stärkste Reichstagsfraktion stellte. Nur waren alle anderen gegen die „vaterlandslosen Gesellen“ einig – bis die im August 1914 geschlossen für die Kriegskredite stimmten, wobei sich eine Minderheit von 14 Abgeordneten, unter ihnen Karl Liebknecht, der Fraktionsdisziplin nicht beugte. Die radikale Linke der Vorkriegszeit traf sich von da an im „Spartakusbund“, der Keimzelle der späteren KPD.
Es mag das Schicksal dieser Partei sein, ihr Gleichgewicht zwischen Kampf und Kompromiß immer neu suchen zu müssen. Sebastian Haffners später von ihm selbst revidiertes Urteil, die führenden Protagonisten der gegen die spartakistische Gefahr gemeinsam mit der alten Generalität kollaborierenden SPD-Funktionäre Ebert, Scheidemann und Noske wären nicht nur Verräter gewesen, sondern hätten auch noch so ausgesehen, entsprach der Wahrnehmung der Linken in der Weimarer Zeit. Teilweise wider Willen wurde die Sozialdemokratie staatstragende Partei und konnte so soziale Reformen anschieben – in bezug auf Gleichberechtigung, Bildung, Wohnungsbau und die Besserstellung der Arbeiterschaft. Die Wähler dankten es ihr nicht, die Mitgliederzahlen sanken. Als Reichskanzler von Papen die sozialdemokratische preußische Regierung Braun-Severin 1932 staatsstreichartig absetzte, stand die Partei ratlos und unfähig zur Aktion da. Die Parteilinken stiegen mit der „Sozialistischen Arbeiterpartei“ wieder aus; die „Neuen Rechten“ sammelten sich um Mierendorff, Leber und Schumacher, bevor die Partei im Juni 1933 verboten wurde.
Nach dem Krieg 1946 in der Sowjetischen Besatzungszone mit den Kommunisten zur SED zwangsvereinigt, entwickelte sie im Westen mit Kurt Schumacher eine eher konservative Tendenz, mündend im Godesberger Programm von 1959, das angesichts der Wirtschaftswundererfolge endgültig mit Klassenpartei und Klassenkampf brach. Im besten Sinne des Wortes verkleinbürgerlichte die alte Malocherpartei und avancierte mit Willy Brandt in den Siebzigern geradezu zur Modebewegung der neuen bundesdeutschen Intellektualität, die sich, begeistert von Brandts Ost-Politik, darauf verlassen wollte, daß die Welt evolutionär eine bessere würde.
Wohl keine Partei wirkte so kulturbildend
Schon der Wandel zu Helmut Schmidt und dessen Nachrüstungspolitik stellte die Partei vor eine ähnliche Kraftprobe wie die spätere Agenda-Politik Gerhard Schröders, der die Ära Kohl zwar beenden konnte, aber mit der kopierten Idee von „New Labour“ den Machterhalt nicht zu sichern vermochte.
Und heute? Die Idee der alten Arbeiterbildungsvereine dürfte durch die Bildungspolitik der SPD, allen und jedem Abschlüsse mit immer weniger intellektuellem und sprachlichem Aufwand zu garantieren, längst aufgegeben sein. Immerhin ist Peer Steinbrück innerhalb der behäbigen Führungsriege der charismatischste Kandidat und in seinem Credo vermutlich sehr sozialdemokratisch: Jedem bitte etwas mehr, mir gern das meiste, aus der öffentlichen Hand. Vielleicht wirkte keine andere Partei im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte so kulturbildend wie die „alte Tante SPD“; vermutlich hat keine andere solche Schwierigkeiten mit ihrer eigenen Identität – falls davon überhaupt noch etwas übrig ist, nachdem der „Arbeitnehmer“ morgens kaum mehr zur Schicht radelt, sondern ins Büro fährt.
Immerhin, die alte Tante wird immer älter. Zu Brandts Zeiten über eine Million Mitglieder stark, nimmt die Zahl der „Genossen“ stetig ab. Gegenwärtig sind es nicht einmal eine halbe Million. Tendenz weiter fallend.