Herr Dr. Weißmann, ist die von Ihrem neuen Buch behauptete „Notwendigkeit einer Unterscheidung“ zwischen Rechts und Links angesichts der breiten Klage über „Spaltung“ und dem Wunsch nach mehr „Wir-Bewußtsein“ nicht problematisch?
Karlheinz Weißmann: Als Rechter pflege ich ja ein agonales Weltbild, das heißt, ich glaube, daß „Streit“ – griechisch „Agon“ – produktiv ist. Der soll natürlich nicht bis zum Schädeleinschlagen führen, aber auch nicht in vorschneller Versöhnung enden. Weshalb ich das ganze Gerede über die „Spaltung“, die Verschiebung der „Grenzen des Sagbaren“ oder die Notwendigkeit zivilreligiöser „Tabus“ für Ablenkungsmanöver des Establishments halte. Mein Vorschlag: Laßt uns die Fronten klären, streiten und damit zur Sache kommen – und mein Buch ist als Beitrag zu solcher Versachlichung zu verstehen.
Inwiefern?
Weißmann: Die Unterscheidung von „rechts“ und „links“ ist, wenn Sie so wollen, naturgegeben. Sie entspricht einem der wichtigsten Konzepte menschlicher Welterfassung: das Denken in Zweiheiten wie Tag-Nacht, Gut-Böse, Mann-Frau, Freund-Feind, Oben-Unten und eben Rechts-Links. Das hat seine Schwächen, ist aber kaum zu vermeiden und selbst dann ein erster Schritt, wenn Sie im übrigen – und mit gutem Grund – überzeugt sind, daß die Wirklichkeit nicht Schwarz-Weiß, sondern eher eine Abfolge von Graustufen ist.
Und wo bleibt die Mitte?
Weißmann: Die Mitte ist keine selbständige Größe. Sie wird über das definiert, was unter gegebenen Umständen rechts oder links ist. Wohlwollend formuliert: Da finden sich die Praktiker. Weniger wohlwollend: Da finden sich die Opportunisten. Das, was heute unter „Mitte“ verstanden wird, ist wegen der Stärke der Linken eine ziemlich linke Mitte – im dramatischen Unterschied zu dem, was vor dem Ersten Weltkrieg, in den zwanziger Jahren oder in der Phase des Wiederaufbaus Mitte war.
Nehmen Sie als Lackmusstreifen den Begriff Volksgemeinschaft. Der war für die Parteien der Weimarer Koalition ebenso verbindlich wie für die Bürgerlichen der frühen Bonner Republik. Wenn Sie den heute in den Mund nehmen, verzeichnet Sie der Verfassungsschutz prompt als Rechtsextremisten.
Weißmann: „Die Linke trieb die Dinge voran, die Rechte zog sich zurück“
In Ihrem neuen Buch zeigen Sie auf, wie Rechts und Links seit ihrer Erfindung vor über zweihundert Jahren das Wesen der Politik strukturieren.
Weißmann: Ja, es begann mit der Sitzordnung in der französischen Nationalversammlung: auf der Rechten, also traditionell der bevorzugten Seite, saß die „Partei des Königs“, auf der Linken die „Partei des Volkes“. Aber das ist nur eine Momentaufnahme, denn die Linke spaltete sich sehr rasch in eine gemäßigte, die die bestehenden Verhältnisse nur reformieren will, und eine radikale, die auf einen vollständigen Umsturz hinarbeitet.
Damit haben Sie die Dreiteilung, die in den entwickelten Staaten Europas für das 19. Jahrhundert bestimmend war. Auf der Linken die Anarchisten, Kommunisten, Sozialisten als Erben der Jakobiner, in der Mitte die Liberalen als Erben der Girondisten, auf der Rechten die Konservativen als Erben der Royalisten.
Die Linke treibt den weiteren Gang der Dinge dadurch voran, daß sie eine egalitäre Ordnung verlangt, in der es zuletzt auch keine Unterschiede des Eigentums mehr geben darf. Die Mitte versucht zu bremsen, indem sie die Selbstbestimmung des Individuums ins Zentrum rückt und daher den Markt verteidigt. Und die Rechte hofft auf die Erhaltung oder die Wiederherstellung einer guten Ordnung im Sinne der abendländischen Tradition.
Womit sie alles andere erfolgreich war.
Weißmann: Sie sagen es. Letztlich war das schon am Ende des 19. Jahrhunderts klar: Für die Konservativen gab es nur noch den Rückzug in bestimmte Nischen oder Interessenpolitik für Adel, Agrarier und die Kirche. Es sei denn, sie entschlossen sich zum „historischen Kompromiß“ mit den Liberalen oder zum Versuch, revolutionär zu werden. Die Liberalen dagegen haben triumphiert und die Anerkennung großer Teile ihres Programms nicht nur auf der Rechten, sondern auch der Linken erreicht. Die Linke ihrerseits mußte sich damit abfinden oder nach neuen Wegen suchen, die Verhältnisse umzuwälzen.
Angesichts dessen hätte das 20. doch ein „liberales Jahrhundert“ werden müssen.
Weißmann: Das entsprach tatsächlich der Erwartung vieler Zeitgenossen. Aber damit war es nichts. Die Liberalen hatten sich, wenn Sie so wollen, zu Tode gesiegt, und der Erste Weltkrieg, der Abstieg Europas und der Aufstieg der Massengesellschaft haben etwas wie Liberalismus im eigentlichen Sinn des Wortes unmöglich gemacht. Was kam, war das „Jahrhundert der Extreme“, um den Historiker Eric Hobsbawm zu zitieren, das heißt der Siegeszug der Totalitarismen, zuerst in Gestalt des Kommunismus, dann in Gestalt des Faschismus, zuletzt in der des Nationalsozialismus.
„Der Nationalsozialismus – rechts oder links?“
Daß der Kommunismus links war, ist wohl unstrittig, aber Sie behaupten das auch im Hinblick auf den Faschismus.
Weißmann: Ich behaupte, daß er – trotz des Stillhalteabkommens, das Mussolini mit der Krone, der Armee und der Kirche schloß – Züge einer linken Modernisierungsdiktatur trug. Was übrigens viel von der breiten Zustimmung in der italienischen Bevölkerung erklärt. Fraglos gab es aber auch rechte Merkmale.
Wie im Fall des Nationalsozialismus, den Sie ja – auch das dürfte beim einen oder anderen für Irritation sorgen – der Rechten zuschlagen.
Weißmann: Das tue ich, weil es um Weltanschauungen geht, und im Hinblick auf die Weltanschauung erfüllt der Nationalsozialismus wesentliche Kriterien, die es erlauben, ihn auf der Rechten einzuordnen. Hitler verneinte die Gleichheit der Menschen, ganz egal in welchem Sinn, er wollte sie einem permanenten „Struggle for life“ ausgesetzt wissen und meinte, daß die Weltherrschaft eine Art Wanderpokal sei, der von einer Rasse zur anderen weitergegeben werde, als Ergebnis eines extrem brutalen Ausscheidungskampfes.
Und was ist mit dem „Sozialismus“ in Nationalsozialismus?

Weißmann: Um es mit Friedrich August von Hayek zu sagen: Das ist ein „Wieselwort“. Damit wurden – wegen der Attraktivität, die der Begriff seit Beginn des 20. Jahrhunderts gewonnen hatte – so viele verschiedene Vorstellungen verknüpft, daß eine Zuordnung in etwa so eindeutig wäre wie die des Begriffs „Freiheit“. Der wird ja eben nicht nur von Liberalen, also den „Freiheitlichen“, in Anspruch genommen, sondern auch von Linken – „Freiheit oder Tod!“ war die erste Parole der Jakobiner – und von Rechten wie den britischen Konservativen, die „Imperium et libertas“ zu ihrem Motto gemacht haben.
Und im Fall des Sozialismus haben Sie im Kaiserreich neben dem marxistischen Sozialismus der SPD den konservativen „Staatssozialismus“ und Friedrich Naumanns – Leitfigur der Liberalen – „deutschen Sozialismus“, dann den „Preußischen Sozialismus“ Oswald Spenglers, den „Ethischen Sozialismus“ der Fabier, den „bündischen“, den „völkischen“ und selbstverständlich den „nationalen Sozialismus“ in allen möglichen Varianten – nach 1945 übrigens noch den „christlichen Sozialismus“ der CSU oder Mitterrands „Sozialismus in den Farben der Trikolore“ neben dem üblichen „realexistierenden“.
Denken Sie auch an den Hinweis Carl Schmitts, daß alle politischen Begriffe polemische Begriffe sind, also ihre Bedeutung nicht zuletzt aus dem Gegensatz zu anderen Begriffen beziehen.
„Rechten geht es um den Zugang zur Wirklichkeit“
Fußt Ihr Versuch, in diese Unübersichtlichkeit eine Struktur zu bringen, nicht auf der Annahme eines jeweiligen „Denkstils“, der die Zuweisung nach rechts und links erlaubt?
Weißmann: Am einfachsten können Sie sich das Gemeinte klarmachen, wenn Sie fragen, von welchem Grundsatz jemand die soziale Ordnung bestimmt sieht, welches Menschenbild er hat, welches Verständnis der Natur und Geschichte er vertritt. Ganz knapp: Wer wie Michail Bakunin, dem Vater des Anarchismus, ein „Gesetz der Gleichheit“ annimmt, wer glaubt, daß der Mensch im Prinzip gut ist, die Natur als Parklandschaft betrachtet und sich überzeugt gibt, daß der Fortschritt alles, auch den Menschen, immer besser werden läßt, ist links.
Wenn jemand die Wirklichkeit als tendenziell chaotisch wahrnimmt, weshalb im Mittelpunkt die Errichtung und Erhaltung der Ordnung steht, wenn er den Menschen für einen problematischen Fall hält, in der Natur eine Savanne sieht, die Löwen durchstreifen, und glaubt, daß die Geschichte eine Abfolge von Aufstieg, Blüte und Dekadenz ist, können Sie ihn der Rechten zuweisen.
In Ihrem Buch ist auch die Rede von einer Differenz im Hinblick auf die Erkenntnismöglichkeiten des Menschen.
Weißmann: Ja, insofern als man links ein tiefes Mißtrauen gegenüber jeder Ontologie pflegt, polemisch hat der ungarische Denker Thomas Molnar von „Seinshaß“ gesprochen. Ganz gleich, ob Sie den Marxismus oder die Rezeption Freuds oder den Konstruktivismus oder den Postkolonialismus nehmen.
Es geht immer darum, daß die Dinge, die offensichtlich sind, nicht sind, sondern es irgendein „Dahinter“ gibt, das es zu entlarven gilt – egal, ob es um das verborgene Klasseninteresse geht oder um die anale Fixierung oder das Erfunden-Sein von diesem oder jenem oder den Umstand, daß Sie als weißer Mann gar nicht verstehen könnten, was das Wesen der Unterdrückung der „People of Color“ ausmache.
Dagegen haben Rechte nicht nur Respekt vor Alltagswissen und gesundem Menschenverstand, sondern auch die tiefe Überzeugung, daß unsere Vernunft das Instrument ist, das uns Zugang zur Wirklichkeit verschafft. Selbstverständlich nicht zur Wirklichkeit als solcher, aber doch zu entscheidenden Aspekten.
„Totgesagt wurde der Rechts-Links-Gegensatz fast von Anfang an“
Solche Denkstile hat es doch aber schon gegeben, bevor sie sich in politischen Weltanschauungen niederschlugen.
Weißmann: Das stimmt. Man kann einen linken Denkstil auch bei dem Propheten Amos, den Gracchen oder dem radikalen Flügel der Reformation ausmachen, einen rechten bei Mohammed, Aristoteles oder Machiavelli. Und nicht nur das: Der Denkstil ist zäher als die Weltanschauung. Das heißt, auch wenn es noch unbeugsame Kommunarden und die Anhänger von Ludwig von Mises und irgendwo ein Reservat für die Königstreuen in der Vendée gibt: einen Sozialismus, einen Liberalismus oder Konservatismus im klassischen Sinn des Wortes kann es nicht mehr geben. Dasselbe gilt in anderer Weise auch für Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus als Breitenphänomene.
Bleibt noch die liberale Demokratie.
Weißmann: Die hatte doch immer etwas von einem hölzernen Eisen. Das heißt, sie bedient sich zu ihrer Verteidigung entweder der Aufhebung der liberalen Freiheitsrechte oder sie entmachtet den Demos. Die Verstörung, die das Auftreten „illiberaler Demokraten“ ausgelöst hat, erklärt sich vor allem daraus, daß die auf diese Sollbruchstellen hingewiesen haben und den Herrschenden nun nichts Besseres einfällt als jeder anderen Politischen Klasse: Indoktrination und Repression.
Das alles dürfte Otto Normalverbraucher allerdings kaum klar sein, wenn er sich die Frage stellt, ob er „rechts“ oder „links“ ist.
Weißmann: Nun, wir wollen den Durchschnittsmenschen auch nicht unterschätzen, aber zweifellos genügt den meisten die ungefähre Orientierung. Was weiter erklärt, warum in Befragungen die wenigsten Schwierigkeiten haben, sich auf einer Links-Rechts-Skala zu verorten. Das heißt, Wähler der AfD schätzen sich normalerweise als gemäßigt rechts ein, Wähler der Union sehen sich etwas rechts der Mitte, die der FDP entweder exakt im Zentrum oder leicht links davon, Sozialdemokraten stehen auf der gemäßigten, Grüne und Anhänger vom Bündnis Sahra Wagenknecht oder der Postkommunisten ganz auf der Linken.
Von der Vorstellung, daß der Rechts-Links-Gegensatz im Grunde erledigt sei, halten Sie also nichts?
Weißmann: Dazu drei Bemerkungen: Totgesagt wird der Rechts-Links-Gegensatz schon fast so lange wie er existiert, und Totgesagte leben länger. Ein kluger Franzose, der Philosoph Émile „Alain“ Chartier, hat einmal geäußert, daß der, der behauptet, der Rechts-Links-Gegensatz sei überholt, jedenfalls kein Linker sein könne. Und eine kluge Italienerin, Giorgia Meloni, meinte unlängst: „Ich bin rechts!“
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Dr. Karlheinz Weißmann. Der 1959 im niedersächsischen Northeim bei Göttingen geborene Historiker veröffentlichte zahlreiche Bücher. Seinen Ruf begründete mit dem Ullstein-Titel „Rückruf in die Geschichte“ (1992), dem Propyläen-Band „Der Weg in den Abgrund. Deutschland unter Hitler 1933-45“ (1995) und der Neuherausgabe von Armin Mohlers Standardwerk „Die konservative Revolution in Deutschland 1918-1932“.
Zuletzt erschienen „Zwischen Reich und Republik. Geschichte der deutschen Nachkriegsrechten“ (2024) und das „Lexikon politischer Symbole“ (2022) – auf seiner Netzseite www.feuerstahl.org beschäftigt Weißmann sich ebenfalls mit der Kulturgeschichte politischer Symbole – sowie „Kulturbruch ‘68. Die linke Revolte und ihre Folgen“ (2017) und die Jugendsachbücher „Prophet der Deutschen. Martin Luther für junge Leser“ (2017) und „Deutsche Geschichte für junge Leser“ (2015).
Nun ist sein neuer Band erschienen: „Rechts oder Links. Von der Notwendigkeit politischer Unterscheidung“