Herr Dr. Weißmann, was hat es mit dem Titel Ihres neuen Buchs „Zwischen Reich und Republik“ auf sich?
Karlheinz Weißmann: Die Stichworte „Reich“ und „Republik“ stehen für zwei Grundorientierungen der politischen Rechten in Deutschland nach 1945. Was heute vielfach vergessen wird, ist, daß das „Reich“, die „Reichsidee“, der „Reichsgedanke“ gerade in konservativen und nationalliberalen Kreisen trotz des Zusammenbruchs weiter Orientierungspunkte waren.
Der erste Bundestagspräsident Hermann Ehlers von der CDU hat sich genauso dazu bekannt wie der langjährige Justizminister Thomas Dehler von der FDP, gar nicht zu reden von der „Nationalen Opposition“ und den „Ultras“. Erst im Lauf der Zeit hat sich das Gewicht in Richtung „Republik“ verschoben, um so stärker, je deutlicher wurde, daß die Bundesrepublik kein kurzlebiges Provisorium bleiben werde. Womit auch für die Rechte eine Neuorientierung notwendig wurde.
Von welchem Zeitraum reden wir da?
Weißmann: Von der Phase erster Reorganisationsversuche unmittelbar nach Kriegsende bis zum Beginn der siebziger Jahre, markiert durch das Scheitern der NPD – als diese 1969 mit 4,3 Prozent den Einzug in den Bundestag relativ knapp verpaßte –, und die Vorstellung, daß rechts der Mitte nur noch die Union existieren werde. Das ist ein für den Historiker schon gut erfaßbarer, da relativ abgeschlossener Zeitabschnitt. Danach kam für die deutsche Rechte der lange Marsch durch die Wüste.
Weißmann: So kann man sagen. Nachdem auch aus dem Projekt der 1983 gegründeten Republikaner nichts geworden war und die Marktliberalen in der AfD die Führung abgeben mußten, stellt die Partei fraglos den ersten aussichtsreichen Versuch seit einem halben Jahrhundert dar, diesen Teil des politischen Spektrums in Deutschland zu organisieren.
Weißmann: „Nach dem Krieg waren Nationale und Konservative durchaus erfolgreich“
Mit der Einordnung ist man in der AfD-Spitze vielleicht nicht ganz glücklich?
Weißmann: Das mag so sein, und selbstverständlich gibt es gute Gründe, mit dem Etikett „rechts“ vorsichtig zu hantieren, bedenkt man die Unduldsamkeit der strukturlinken Meinungsmacht in diesem Land. Aber darum kann es für den Historiker nicht gehen. Im übrigen wissen die AfD-Anhänger doch ziemlich genau, wo sie politisch hingehören.
Weißmann: Ein skeptisches Menschenbild, die Überzeugung, daß die Geschichte keinen Fortschritt kennt, der aus uns etwas Besseres macht als den alten Adam, der Vorrang des Ordnungsprinzips und deshalb die Ablehnung des Egalitarismus und die Bindung an die Gemeinschaft der Lebenden und der Toten, der wir angehören, wie es der Erzvater des Konservatismus Edmund Burke formuliert hat.
Im Buch zitieren Sie den sozialdemokratischen Vordenker Peter Glotz, wonach die meisten Autoren, die über die Rechte schrieben, dies nicht tun, um diese zu „untersuchen“, sondern um sie zu „verachten“. Füllt Ihr Buch also eine Lücke?
Weißmann: Das will ich hoffen. Mir geht es darum, daß zur Bearbeitung des Themas die Verfahren angewendet werden, die man in der Geschichtswissenschaft eigentlich immer anwenden sollte: Das heißt, man arbeitet gestützt auf die Quellen und eventuell die Aussagen der Zeitzeugen, unter Berücksichtigung des Forschungsstands – wenn es einen gibt –, bleibt in der Darstellung sachlich und nüchtern, in jedem Fall um Verstehen bemüht und meidet hinsichtlich der Bewertung doppelte Maßstäbe.
„Den Wiederaufbau verdanken wir im Grunde ganz wesentlich der ‘vernünftigen Rechten’“
Was genau bietet Ihr Buch also, was andere zu dem Thema nicht bieten?
Weißmann: Was die anderen bieten, ist doch im Grunde stets Volkspädagogik. Entweder ganz offen als antifaschistische Kampfliteratur oder – bei dem, was vor allem die Politologen und Extremismusforscher produzieren – eine ungeschichtliche, jedenfalls sehr einseitige Darstellung, für die es immer „fünf Minuten vor 1933“ ist. Mir geht es dagegen um die „Historisierung“ der Nachkriegsrechten und – bezogen auf meine eigenen Arbeiten – um einen Abschluß der Untersuchungen, die ich zur Konservativen Revolution, zum Nationalsozialismus und zur Geschichte der konservativen Intelligenz nach 1945 schon vorgelegt habe.
Eingangs haben Sie dargelegt, daß die zweite (und längste) Phase der Nachkriegsrechten – von den sechziger Jahren bis zur Gründung der AfD 2013 – keine Erfolgsgeschichte war. Warum eigentlich nicht?
Weißmann: Nun, so einfach liegen die Dinge nicht. Das Ergebnis der ersten Bundestagswahl von 1949 kommentierte die Times mit der lapidaren Feststellung: „Sieg der Rechten“. Gemeint waren da CDU und CSU, aber auch die FDP und die – in der Zwischenzeit untergegangene – dezidiert konservative Deutsche Partei. Die bildeten als „Bürgerblock“ im Bund wie in den Ländern regelmäßig Regierungen, und als es der Union in der Folge gelang, sich auch als Partei der „vernünftigen Rechten“ – eine Formulierung Adenauers – zu präsentieren, war sie damit außerordentlich erfolgreich, tendenziell sogar mehrheitsfähig.
Im Grunde verdanken wir die Leistungen des Wiederaufbaus ganz wesentlich dieser „vernünftigen Rechten“. Deren Position geriet erst mit der in den sechziger Jahren eingeleiteten Kulturrevolution von links immer stärker unter Druck. Da spielte der Generationenwechsel eine Rolle, aber auch die außenpolitische Entspannung zwischen den Blöcken, der Durchbruch der Konsumgesellschaft und die Instrumentalisierung der Vergangenheitsbewältigung. Letzteres war ein deutsches Spezifikum, alles andere nicht.
Da ging es um Prozesse, die sich so oder ähnlich in der ganzen westlichen Welt vollzogen haben. 1979 kam ein Insider wie Alain de Benoist zu der nüchternen Feststellung: „Die Rechte existiert nicht mehr.“ Nur in den USA und Großbritannien gab es im Zeichen von Marktwirtschaft und Nationalismus – unter Reagan und Thatcher – eine stärkere Gegenbewegung. Aber selbst so etwas war in der Bundesrepublik zu Kohls Zeiten ausgeschlossen.
Aus der Rückschau neigt man dazu zu schließen: Aus der Rückschau neigt man dazu zu Angesichts der langen Schatten des Dritten Reichs war das Scheitern der Rechten nach dem Krieg früher oder später unvermeidlich. Aber stimmt das eigentlich?
Weißmann: In meinem Buch ist ein Plakat abgebildet, das die erwähnte Deutsche Partei zur ersten Bundestagswahl verwendet hat. Die Parole lautet: „Fahre rechts – Bleibe rechts – Wähle rechts“. Mit dieser Unbekümmertheit war die DP aber gar nicht allein, die FDP hatte phasenweise mit „Rechts ran!“ geworben. Und ganz allgemein wird man feststellen können, daß in der rechten Intelligenz der Nachkriegszeit die Überzeugung verbreitet war, daß 1945 zwar die Widerlegung des Kollektivismus und den Untergang der „braunen Jakobiner“ bedeutete, aber nicht den ihrer eigenen Ausgangspositionen.
Es gab jedenfalls ein ausgeprägtes Selbstbewußtsein, mit dem man auch dem moralischen Überlegenheitsanspruch der Siegermächte entgegentrat. Nicht nur dem der Sowjetunion, sondern auch dem der „Geldsackamerikaner“, um eine Formulierung des deutsch-jüdischen Historikers Hans-Joachim Schoeps zu nennen, deren „Propagandamonopol“ es zu brechen gelte, was Adenauer ausdrücklich gefordert hat.
Auch diesbezüglich fand die Veränderung erst statt, als die Nachkriegszeit im engeren Sinn schon vorbei war, und zwar nicht, weil man zu überlegenen Einsichten gekommen ist, sondern weil die nun tonangebenden Kreise begriffen hatten, welches Machtinstrument „Hypermoral“ – ein vom Soziologen Arnold Gehlen geprägter Begriff – in der modernen Gesellschaft sein kann.
„Auch die SPD war gegen Kollektivschuld und Vertreibung aus den Ostgebieten des Reichs“
Was ist denn eigentlich mit dem Linksnationalismus: Da Sie im Buch zum Teil ja auch den Liberalismus unter rechts einordnen, warum dann nicht auch den Linksnationalismus?
Weißmann: Nun Linke sind eben Linke, jedenfalls in Deutschland, und in der Regel Antipatrioten. Wenn von Linksnationalisten die Rede ist, dann von den Ausnahmen, die die Regel kennt. Und da kommen Sie doch kaum über Kurt Schumacher hinaus. Ansonsten habe ich am Patriotismus vieler Sozialdemokraten zu Beginn des Ersten Weltkriegs keinen Zweifel, aber schon in der Weimarer Republik sah es damit anders aus.
Die Versuche der SPD-Kampforganisation „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“ und dann der „Eisernen Front“, etwas wie einen republikanischen Nationalismus zu kreieren, hatten doch immer etwas Aufgesetztes. Als die Jungsozialisten es ab 1923 mit dem Hofgeismarer Kurs versuchten, um Nation und Demokratie zu versöhnen, sahen sie sich sofort von der Parteispitze diszipliniert.
Was ist mit dem erwähnten Nachkriegs-SPD-Chef Kurt Schumacher?
Weißmann: Nach dem Zusammenbruch 1945 spielte – auch bei Schumacher und erst recht auf seiten der Kommunisten – die Sorge mit, es könnte wie nach dem Versailler Vertrag der Eindruck entstehen, daß die Arbeiterbewegung sich aus dem Schicksal des eigenen Volkes davonstehle. Dem wollte man in jedem Fall entgegentreten, auch mit dem Kampf gegen die Kollektivschuldlüge und bei den Sozialdemokraten mit der Betonung, daß die Vertreibung aus den Ostgebieten nicht hingenommen werde und ein wiedervereinigtes Deutschland selbstverständlich Anspruch auf die Grenzen von 1937 habe.
Aber damit war es spätestens im Vorfeld der Bildung einer sozialliberalen Koalition ab 1969 vorbei. Wer an den alten Idealen festhalten wollte, wechselte die Seiten oder mußte seine politische Heimatlosigkeit akzeptieren. Für einen kurzen Moment, angesichts der Friedensbewegung sowie der Gründung der Grünen 1980 als einer neutralistischen Gruppierung, hätte es nochmal anders aussehen können.
Aber das erwies sich als Illusion. Daran ändert auch nichts, daß es bei den „Linken Leuten von Rechts“ – ein Paradox, das auf Kurt Hiller zurückgeht und dem ich im Buch einen Exkurs gewidmet habe –, also den Nationalrevolutionären, Einzelne gab, die sich eher als Linke verstanden.
Ergibt sich aus Ihrer Arbeit eine Formel, nach der eine Rechtspartei erfolgreich sein kann?
Weißmann: Man soll ja keinen neuen Wein in alte Schläuche füllen, wie die Bibel sagt. Also: Nein.
„‘Rechts’ und ‘Links’ wird es auch weiterhin geben – aber in neuem Sinne“
In Ihrem Buch gehen Sie bezüglich des Westens mit dem US-Politologen Patrick J. Deneen von einem zunehmenden „Systemversagen“ und davon aus, daß der vorherrschende gesellschaftliche Liberalismus seine Hegemonie verliere. Was bedeutet das für die Zukunft der Rechten? Wie wird diese künftig aussehen und welche Rolle wird sie spielen?
Weißmann: Der Historiker ist ja nur ein rückwärtsgewandter Prophet, er hütet sich, konkrete Aussagen über die Zukunft zu machen. Es will mir aber scheinen, als ob wir Zeugen eines Prozesses werden, in dessen Verlauf die in der Französischen Revolution oder ihrem Gefolge entstandenen Ideologien alle an ihr Ende kommen. Diese Feststellung gilt selbstverständlich für den Konservatismus, der keine gesellschaftliche Trägerschicht mehr besitzt und lebensweltlich kaum noch Anknüpfungspunkte findet. Werfen sie nur einen Blick auf die Institutionen – Beamtentum, Armee, Kirche –, die einmal der Stolz der Konservativen waren. Davon ist nichts geblieben.
Aber auch für den Liberalismus sieht es nicht besser aus, weil er alle seine Versprechen gebrochen hat: Keine heilsame Wirkung des freien Marktes, kein Vorrang der Rationalität, keine offene Debatte, keine Toleranz gegenüber den Andersdenkenden, keine Gleichheit der Rechte, sondern inzwischen sind wir wieder bei einer Art Ständestaat, in dem Rasse, Geschlecht und Bekenntnis darüber entscheiden, ob man Privilegien genießt oder nicht.
Und was die Linke betrifft, wird man über den Sozialismus kein Wort verlieren müssen, während der Wokismus eine dieser deprimierenden Verknüpfungen aus Anarchie und Erziehungsdiktatur darstellt, die immer Platz greifen, wenn man das Gleichheitsdogma an die Macht läßt. Was daraus folgt, wird man sehen. Die Unterscheidung von Rechts und Links dürfte sicher weiter eine Rolle spielen – nur nicht im bisherigen Sinn. Das aber ist ein anderes Thema. Doch um es schon zu verraten: Das wird das Thema meines nächsten Buches, an dem ich gerade arbeite.
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Dr. Karlheinz Weißmann veröffentlichte zahlreiche Bücher, darunter das „Lexikon politischer Symbole“ (2022), „Wer ist rechts? Versuch einer Typologie“ (2020) oder „Kulturbruch ‘68. Die linke Revolte und ihre Folgen“ (2017) sowie die Jugendsachbücher „Deutsche Geschichte für junge Leser“ (2015) und „Prophet der Deutschen: Martin Luther für junge Leser“ (2017). Auf seiner Netzseite feuerstahl.org beschäftigt er sich mit der Kulturgeschichte politischer Symbole.
Seinen Ruf begründete der 1959 im niedersächsischen Northeim geborene Historiker mit dem Ullstein-Titel „Rückruf in die Geschichte“ und dem Propyläen-Band „Der Weg in den Abgrund. Deutschland unter Hitler 1933–45“ sowie der Neueditierung des zeitgeschichtlichen Handbuchs „Die konservative Revolution in Deutschland 1918 bis 1932“. Nun ist sein neuer Band erschienen: „Zwischen Reich und Republik. Geschichte der deutschen Nachkriegsrechten“