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Studie des Ökonomen Thomas Piketty: Wie linke Arbeiterparteien zu Parteien der Bildungselite wurden

Studie des Ökonomen Thomas Piketty: Wie linke Arbeiterparteien zu Parteien der Bildungselite wurden

Studie des Ökonomen Thomas Piketty: Wie linke Arbeiterparteien zu Parteien der Bildungselite wurden

Arbeiter
Arbeiter
Linke Parteien verlieren den Arbeiter als Wähler Foto: picture alliance/dpa | Mohssen Assanimoghaddam
Studie des Ökonomen Thomas Piketty
 

Wie linke Arbeiterparteien zu Parteien der Bildungselite wurden

Ursprünglich galten linke Parteien als Vertreter der Arbeiterklasse und von Wählern mit niedrigem Einkommen. Das hat sich in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch verändert, wie auch die neue Studie des Ökonomen Thomas Piketty beweist. Bildungseliten bilden nun die Vorhut auf der Linken.
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Wie jede größere Wahl sorgte auch der Urnengang in Sachsen-Anhalt in der vergangenen Woche für allerhand interessantes Datenmaterial. Welche Parteien wählen Personen aus dieser oder jener Bildungsschicht? Wie sind die Altersstrukturen verteilt? Welchen beruflichen Hintergrund haben Wähler linker oder rechter Parteien? Ganz ähnliche Fragen stellten sich in einer Anfang Mai publizierten Studie auch die Ökonomen Amory Gethin, Clara Martínez-Toledano und Thomas Piketty, die am „World Inequality Lab“ der Paris School of Economics tätig sind. Wenngleich die drei Forscher ihren Fokus natürlich nicht auf Sachsen-Anhalt legten, sondern Daten aus mehreren westlichen Demokratien sammelten. Zugleich betteten sie das Ganze in eine historische Perspektive ein.

Herausgekommen ist eine wissenschaftliche Untersuchung, die tatsächlich aufschlußreiche Erkenntnisse über die langfristigen Wählerpräferenzen und -wanderungen in insgesamt 21 westlichen Demokratien liefert. Die drei Wissenschaftler schufen eine Datenbank, die genau aufzeigt, wie sich Wähler mit unterschiedlichsten sozioökonomischen Hintergründen in über 300 Wahlen zwischen 1948 und 2020 entschieden haben.

Bildung als das entscheidendste Kriterium

Die wohl gravierendste Erkenntnis stellen die Autoren gleich zu Beginn vor: In den 1950er und 1960er Jahren hätten sich Wähler mit niedrigem Bildungsstand und niedrigem Einkommen mit „Arbeiter-, sozialdemokratischen, sozialistischen und ähnlichen Parteien“ eng verbunden gefühlt. Allmählich jedoch sei das Band zerrissen. Die Wählerschicht linker Parteien bestand zunehmend aus höher gebildeten Anhängern.

In Sachen Einkommen habe sich jedoch seit den 1950er Jahren wenig verändert. Einkommensstarke Schichten machen weiterhin vornehmlich bei Parteien rechts der Mitte ihr Kreuz. Obwohl der Unterschied zwischen links und rechts sich auch hier näher angleicht. 2016 und 2020 wählten in den USA die „oberen zehn Prozent der Einkommensbezieher zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg mit höherer Wahrscheinlichkeit die Demokratische Partei“. Und gerade die explizit rechten, einwanderungskritischen Parteien in Europa zögen zunehmend einkommensschwache Bürger an. Die „Merchant Right“ aber, die kaufmännische Rechte, wie Piketty und sein Team jene einkommensstarke Wählerschicht nennen, fühle sich noch immer bei konservativen und liberalen Parteien am wohlsten.

Wählerwanderung
Die Abbildung stellt die Differenz zwischen dem Anteil der Wähler mit hohem Einkommen (obere 10 %) und dem Anteil der Wähler mit niedrigem Einkommen (untere 90 %) dar, die für ausgewählte Gruppen von Parteien auf der y-Achse stimmen und die gleiche Differenz zwischen Wählern mit höherem Bildungsstand (obere 10 %) und Wählern mit niedrigerem Bildungsstand (untere 90 %) auf der x-Achse. Quelle: World Inequality Lab – Working Paper N° 2021/15 Grafik: JF

Die Entwicklung habe in den 2000er und 2010er Jahren zu einem „Multi-Eliten-Parteiensystemen“ geführt, schreiben die Autoren. Was die drei Forscher damit meinen: Eliten mit hohem Bildungsniveau wählten nunmehr links, während Eliten mit hohem Einkommen weiterhin rechts wählten. „Dieser Übergang wurde durch den Aufstieg der grünen und der Anti-Einwanderungs-Bewegung beschleunigt, deren Hauptunterscheidungsmerkmal darin besteht, daß sie die Stimmen der Wählerschaft mit höherem bzw. niedrigerem Bildungsniveau konzentrieren.“ Nach und nach sei so eine „neue soziokulturelle Achse des politischen Konflikts“ entstanden.

Heutige Wählerpräferenzen
Heutige Wählerpräferenzen: Bildung unterscheidet am deutlichsten einwanderungsfeindliche von grünen Parteien, während das Einkommen am deutlichsten konservative und christliche Parteien von sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien unterscheidet. Quelle: World Inequality Lab – Working Paper N° 2021/15 Grafik: JF

Untere 50 Prozent gehen weniger an die Wahlurne

In diesem Prozeß konnten jedoch laut der Studie nicht alle mitgenommen werden. Das neue System sorgte augenscheinlich für erhöhte Nichtwählerzahlen. Tatsächlich ist gemäß der Daten die Wahlbeteiligung von Wählern der unteren 50 Prozent (sowohl in bezug auf die Bildung als auch auf das Einkommen) in einer Reihe von Ländern stark gesunken. Bei den Wählern der oberen 50 Prozent blieb die Teilnahmebereitschaft auf einem konstanten Niveau. Dies könne „als Zeichen dafür interpretiert werden, daß sich sozial benachteiligte Wähler durch den Aufstieg der ‘Multi-Eliten’-Parteiensysteme übergangen fühlten“, schreiben die Autoren.

Zugleich widerspricht der Blick auf die Präferenzen für Parteien nach Alter gängigen Klischees. „Wir konnten keine Beweise finden, daß jüngere Generationen linker geworden sind als in den 1950er Jahren“, schreiben die Forscher. Stattdessen könne man jedoch eine auffällige Umkehrung des Bildungsgefälles innerhalb der Generationen erkennen. „Ältere Wähler mit niedrigerem Bildungsniveau wählen weiterhin ‘entlang der Klassenlinien’ und unterstützen somit die Linke.“ Gleichzeitig hätten sozialdemokratische und grüne Parteien einen wachsenden Anteil der Wählerschaft mit höherem Bildungsniveau unter der Jugend angezogen.

Auch die Kluft zwischen Stadt und Land sowie die religiöse Kluft sei „in den meisten Ländern unseres Datensatzes stabil geblieben“. Ländliche Gebiete und religiöse Wähler unterstützten weiterhin eher konservative Parteien, genau wie in den 1950er bis 1960er Jahren. „Mit anderen Worten: Grüne Parteien finden zwar mehr Unterstützung bei jungen, städtischen und nicht-religiösen Wählern, aber das unterscheidet sie nicht grundlegend von der traditionellen Linken. Bildung, nicht Alter, Geographie oder Religion, scheint eine grundlegendere Quelle der Neuausrichtung des Parteiensystems zu sein“, fassen die Autoren zusammen.

Wen wählen Muslime?

Auch auf das Wahlverhalten von Einwanderern geht die Studie näher ein. Schon frühzeitig sorgte in Westeuropa der Entkolonialisierungsprozeß für eine erhöhte Zuwanderung. Die Öffnung der internationalen Grenzen, die Globalisierung und die Flüchtlingskrise ab 2014/15 beschleunigten den Zustrom aus außereuropäischen Ländern. Viele dieser Einwanderer und ihre Nachkommen erwarben die Staatsbürgerschaft des jeweiligen Landes, was ihnen auch das Wahlrecht bei nationalen Wahlen ermöglichte. Die Wahlstatistiken zeigen: Ein signifikanter Anteil der Neubürger fühlte sich zu sozialdemokratischen Parteien hingezogen.

Wie wählen Muslime?
Die Differenz zwischen dem Anteil der muslimischen Wähler und dem Anteil der Nicht-Muslime, die im Zeitraum 2010-2020 für sozialdemokratische, sozialistische oder grüne Parteien stimmten. Quelle: World Inequality Lab –Working PaperN° 2021/15 Grafik: JF

Laut den vorliegenden Daten der Jahre 2010 bis 2020 läßt sich eine „nativistische Spaltung“ nachweisen, wie es in der Untersuchung heißt. „Wir stellen fest, daß Einwanderer im allgemeinen sozialdemokratische und ihnen nahestehenden Parteien viel stärker unterstützen als Einheimische.“ Noch stärker ist der Unterschied, wenn man nur muslimische Wähler betrachtet. In Deutschland geht eine muslimische Wahlstimme mit einer knapp 25 Prozentpunkten höheren Wahrscheinlichkeit als eine nicht-muslimische Stimme an die SPD, die Grünen oder die Linken. In Ländern wie Großbritannien, Schweden oder Frankreich liegt der Anteil sogar bei über 40 Prozent.

Linke Parteien verlieren den Arbeiter als Wähler Foto: picture alliance/dpa | Mohssen Assanimoghaddam
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