Das hätte sich Wolfgang Thierse noch vor einigen Jahren wohl nicht träumen lassen: Daß ausgerechnet er einmal zur Persona non Grata in seiner Partei werden könnte. Er, der Zeit seines parteipolitischen Lebens stets als der moralische Zeigefinger der Sozialdemokratie auftrat.
Er, der sich „gegen Nazis“ auf die Straße setzte und bedeutungsschwer und salbungsvoll in unzähligen Reden vor der Gefahr von Rechts warnte, unter anderem als Schirmherr der Amadeu-Antonio-Stiftung. Er, der Ost-Mann mit Bürgerrechtlerattitüde, zwei Legislaturperioden Bundestagspräsident und zwei weitere Vizepräsident.
Stolzer Träger der Ehrendoktorwürde der Universität Münster und Inhaber des Großkreuzes des Bundesverdienstkreuzes. Einer, der Moralpolitik und Erinnerungskultur wie kein zweiter verkörperte, ist nun plötzlich bei Teilen der Parteispitze nicht mehr wohlgelitten. Und alles nur wegen eines Beitrags in der FAZ, in dem er zaghaft davor gewarnt hatte, eine zu einseitige linke Identitätspolitik sei geeignet, die Gesellschaft weiter zu spalten und den Rechten in die Karten zu spielen.
Ebenjenen dürfe man doch Begriffe wie Heimat oder Patriotismus nicht überlassen. „Fragen ethnischer, geschlechtlicher und sexueller Identität“ seien in politisch-gesellschaftlichen Diskussionen nicht alles. Es gebe auch noch andere Faktoren, die für das friedliche Miteinander wichtig seien. Die gemeinsame Sprache zum Beispiel und die Anerkennung von Recht und Gesetz. So weit, so selbstverständlich.
Was ist schon normal?
Doch was ist in Zeiten von „Cancel Culture“, „Black Lives Matter“-Hysterie und Genderwahn, oder in denen Kindergartenkinder sich nicht mehr als Indianer verkleiden sollen, um sich nicht dem Vorwurf der kulturellen Aneignung auszusetzen, noch normal? Wo Klassiker wie „Jim Knopf“ und „Peter Pan“ schon als verdächtig gelten.
In denen mit einem Kreuzzug im Namen der politischen Gleich- und Korrektheit alles mit Quoten geregelt werden muß und die vermeintlich geschlechtergerechte Sprache fröhlich ihren Einzug in den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und ins höchste deutsche Parlament feiert. In einer Zeit, in der Studenten an Universitäten keine andere Meinung mehr zugemutet werden kann als ausschließlich ihre eigene.
Hatte Wolfgang Thierse da wirklich geglaubt, die neuen Herrschafts- und Machtstrukturen im öffentlichen Diskurs würden nicht für ihn gelten? Daß er einfach so in die Empörungsküche der sozialen Medien mit ihren aus dem Kontext gerissenen und verkürzten Zitaten spazieren und dort die Identitätspfanne und den Gendertopf über dem offenen Feuer schwingen könnte, ohne sich zu verbrennen?
Sollte dem so sein, hat Wolfgang Thierse nicht nur die Zeichen der Zeit ver-, sondern auch nicht erkannt, wer da mittlerweile an der Spitze seiner geliebten Sozialdemokratie steht. Hat er wirklich angenommen, ein Kevin Kühnert oder eine Saskia Esken würden sich vor ihn Stellen und gegen völlig haltlose Kritik in Schutz nehmen? Daß letztere kein Freund von Meinungspluralismus ist, hat sie bereits in der Vergangenheit gezeigt, warum sollte sie dies also nun ausgerechnet in ihrer eigenen Partei dulden?
Thierse noch in der richtigen Partei?
Und auch wenn Kevin Kühnert in einem seltenen Moment mal den nachdenklich-toleranten Linksintellektuellen gibt, so ist es schon naiv, davon auszugehen, daß ausgerechnet er sich der stets aggressiv Köpfe fordernden Homo-Lobby in den Weg stellen und ihr sagen würde, daß sie mit Wolfgang Thierse diesmal den Falschen ins Visier genommen habe.
Thierse mag dies geglaubt oder gehofft haben, mittlerweile weiß er es besser. Und so ist sein Schreiben an Esken, in dem er darum bittet, ihm mitzuteilen, ob seine Parteimitgliedschaft noch erwünscht sei, ein Zeichen geistiger Ernüchterung. Er habe in seinem FAZ-Beitrag nur versucht, „zu Mäßigung zu mahnen und verstärkte Anstrengungen auf das Gemeinsame und Verbindende einer mehr denn je pluralen, diversen Gesellschaft zu richten“, schrieb Thierse laut Tagesspiegel nun an die Parteichefin. „Ich meinte, dies sei gut sozialdemokratisch.“
Er hätte es besser wissen können. Als 2009 die Empörungswelle über Thilo Sarrazin einschlug, forderte Thierse, man müsse zwar dessen Wortwahl verurteilen, dies entbinde einen jedoch nicht von der Verantwortung, Sarrazins nicht ganz unberechtigt angesprochene Punkte von falsch gesteuerter Einwanderung und Integrationsdefiziten zu diskutieren. Darauf mit einem Parteiausschlußverfahren zu antworten, sei der falsche Weg, mahnte Thierse damals.
Gekommen ist es anders. Und so dürfte es auch Thierse langsam dämmern, daß im Superwahljahr, in dem Teile der SPD immer noch hoffen, der Zwangsheirat mit der Union durch eine Zweckehe mit Linkspartei und Grünen zu entkommen, auch er nur noch ein störender, alter, weißer Mann mit Ansichten und Auffassungen von vorgestern ist.