Unter den Warnern, Mahnern, und Nazi-Blockierern zählt Wolfgang Thierse, Bundestagsvizepräsident, SPD, zu den unermüdlichsten. Vor knapp zwei Jahren geriet er mit der Polizei in Konflikt, weil er mit Hilfe seines Abgeordnetenausweises eine Absperrung überwand und sich einer illegalen Straßenblockade „gegen Nazis“ anschloß. Der damalige Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Konrad Freiberg, nannte Thierses Verhalten „empörend und würdelos“. Er habe lediglich seinen Prominentenstatus ausgenutzt. „Dann hat er sich auf die Straße gesetzt, blockiert, damit die Medien auf ihn aufmerksam werden.“
Bei einem 20jährigen wäre der Aktionismus nachvollziehbar. Doch der kleine, pummelige Mann geht schnurstracks auf die Siebzig zu und liefert Grund zum Fremdschämen: zum Durchleiden seiner Peinlichkeiten durch Dritte. Ihm, dem Verursacher, sind sie gar nicht bewußt.
Der Ruhm des Bürgerrechtlers, der Thierse nicht war
Das beginnt bei seiner Zottelbart-Ästhetik, die den Ruhm des Bürgerrechtlers zitiert, der Thierse gar nicht war. Das setzt sich im vergangenen Jahr fort beim Presseempfang des Bundestagspräsidenten im Reichstag. Die Zahnstocher der Häppchen von den kalten Platten, die er im Mund hatte, legte er der Bedienung immer wieder auf die Platten zurück, wo sich die übrigen Speisen befanden, worauf man ihm den Hinweis gab, für die gebrauchten Stäbchen gebe es die kleinen Abfallkörbchen.
Als Mitarbeiter der JUNGEN FREIHEIT sich zu erkennen gaben, erklärte er, daß er Kritik aus dieser Zeitung als Ritterschlag auffasse. Auf die Frage, was er von den Rücktrittsforderungen des Vorsitzenden der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, wegen seiner Polizeischelte beim vorigen Dresden-Einsatz halte, antwortete er aus der Position der Stärke: „Wenn Herr Wendt meinen Rücktritt gegenüber Ihrer Zeitung fordert, dann mache ich mir eher Sorgen um dessen politische Gesinnung!“ Zwei Minuten später stand er dann bei Bundestagspräsident Norbert Lammert und gestikulierte ärgerlich.
Er wäre gern ein intellektueller Bohemien geworden
In seiner Schulzeit, berichtete die Berliner Zeitung, konnte er einmal Prügel abwenden, weil er seine Klasse mit flammendem Plädoyer auf seinen Kontrahenten hetzte. Ein früherer Nachbar erinnert sich, daß Thierse zu DDR-Zeiten gefühlte Ewigkeiten hinter den Gardinen stand und das Treiben auf der Straße beobachtete. In einer Haltung, über die Wilhelm Busch spottete: „Der blöde Konrad schaut von fern / und hat die Sache doch recht gern“.
Er wäre gern ein intellektueller Bohemien geworden, war 1998 in einem bissigen Zeitungsporträt über ihn zu lesen. Beim Wünschen ist es geblieben. Auch der Katalog zur Ausstellung über die untergründige Künstler- und Intellektuellenszene der DDR, die 1997 im Berliner Zeughaus stattfand, wußte nur zu berichten, daß es Thierse damals mit wehendem Trenchcoat durch die Straßen des Prenzlauer Bergs trieb.
Doch wohin? In Werner Mittenzweis Kompendium „Die Intellektuellen“, das nun wirklich jeden verzeichnet – ob Konformist, Nonkonformist, innerer oder äußerer Exilant –, der in der DDR irgendwie von Bedeutung war, bleibt er ungenannt. Erst jetzt, als Politiker, darf er dazugehören, eine Rolle spielen, wird er – jedenfalls vordergründig – ernst genommen.
Komplexe kompensieren und Taten nachholen
Sein politisches Wirken, insbesondere sein Antifa-Aktivismus, muß als Versuch begriffen werden, Komplexe zu kompensieren und Taten nachzuholen, die er in jüngeren Jahren versäumte. Thierse wurde 1943 in Breslau geboren. Sechs Jahre lang, bis 1975, war der studierte Germanist Assistent bei Wolfgang Heise, Ästhetikprofessor an der Berliner Humboldt-Universität. Heise war eine geistige Referenzgröße. Zu seinen Schülern zählen Rudolf Bahro und Wolf Biermann. Er starb 1987, erst 61jährig, an einem Herzinfarkt. Heiner Müller sagte in seiner Trauerrede, Heise hätte die Literatur Kafkas als Realität erlebt.
Thierse war kein Dummkopf, sonst hätte Heise ihn nicht zum Assistenten erwählt, doch die Chance, unter seinen Fittichen wissenschaftlich zu reüssieren, ließ er sich entgehen. Er ist rhetorisch, aber weniger analytisch begabt. Er brach sein Dissertationsprojekt schließlich ab und arbeitete im Kulturministerium. Dort mußte er 1977 ausscheiden, weil er sich geweigert hatte, eine zustimmende Erklärung zur Biermann-Ausbürgerung zu unterzeichnen. Er kam beim Zentralinstitut für Literaturgeschichte an der Akademie der Wissenschaften unter. Auch das war keine schlechte Adresse.
Thierse, der niemals der SED angehörte, lebte einen Spagat zwischen moralischer Selbstbehauptung und relativer Anpassung: ein ehrbares Lebensmodell, das allemal mehr Mut kostete als sein sogenanntes Engagement heute. Es war aber auch ein qualvoller Kompromiß, der ein ständiges Zurückstauen von Einsichten und Lebensenergien erforderte. Die Demütigung durch wissenschaftliche oder publizistische Leistungen auszugleichen, gelang ihm auch an der Akademie nicht. Er blieb in subalternen Tätigkeiten stecken, während viel jüngere Mitarbeiter mit eigenständigen Arbeiten hervortraten.
Drohendes Bermudadreieick von Arbeitsamt, Aldi-Bier und Bratwurstbude
Das wurde bedeutsam mit dem Umbruch 1989. Der führte zur Evaluierung und Abwicklung der wissenschaftlichen Institutionen der DDR: ein insgesamt dunkles Kapitel der Wiedervereinigung, das erst noch geschrieben werden muß. Thierse war damals 46 Jahre alt und hatte außer seinem Germanistikdiplom nicht viel vorzuweisen: keinen Doktortitel, keine wissenschaftliche Leistung, auch kein Renommee als Bürgerrechtler, Künstler oder Szene-Netzwerker. Er konnte gar nicht anders, als Politiker zu werden, um nicht im Bermudadreieck zwischen Arbeitsamt, Aldi-Bier und Bratwurstbude zu versacken. Im Juni 1990 griff er nach dem Vorsitz der Ost-SPD, als sein Vorgänger Ibrahim Böhme wegen IM-Tätigkeit zurücktreten mußte.
Nur ist Thierse kein Machtpolitiker. Unvergessen ist Gerhard Schröders wegwerfendes „Ach, Wolfgang Thierse …“, als der ihn an die Parteidisziplin erinnerte. Echtes Expertenwissen besitzt er ebenfalls nicht. Doch immerhin verfügt seine Stimme über ein angenehmes Timbre. Er kann Banalitäten so überzeugend formulieren, als handele es sich um neue Erkenntnisse. So vermittelt er seinen – willigen – Zuhörern den Eindruck, sie wohnten einem komplizierten Erkenntnisprozeß bei, ohne sie zu überfordern. Zusammen mit der falschen Dissidenten-Aura prädestiniert ihn das zur „moralischen Instanz“ im Kleinformat. Nun zahlt der moralische Anspruch sich aus. Aber nur, wenn man ihn aggressiv zu Markte trägt.
Ruf als Dolmetscher zwischen Ost und West
Es ist ihm gelungen, sich einen Ruf als Dolmetscher zwischen Ost und West zu erarbeiten. In Wahrheit hat er sich stets als „Ossi“ präsentiert, der als erster im Westen „angekommen“ ist. Er hat seit 1990 also nichts anderes getan, als den vorgefundenen Machtverhältnissen zu schmeicheln. Keine einzige originelle Einsicht stammt von ihm, kein Widerspruch gegen falsche Konsense. Sogar zur Abwicklung der akademischen Landschaft der DDR und zur Beutementalität westdeutscher Akademiker hat er niemals deutliche Worte gefunden.
Er hat den Ex-DDR-Bürgern gönnerhaft große Anpassungsleistungen bescheinigt, ohne die Frage aufzuwerfen, ob das Ziel die Anstrengungen überhaupt rechtfertigt. Das hätte erfordert, nach den prinzipiellen Webfehlern des einen auch die des anderen deutschen Staates zu thematisieren. Dieses Risiko hat Wolfgang Thierse immer gescheut. Jetzt will er es endlich einmal richtig gut haben.
Auch das antifaschistische Blockadetraining gehört zum Wohlfühlprogramm der späten Jahre. Der unausgelebte Traum vom „Born to be wild“ wird wahr.
Wofür steht Thierse eigentlich? Wenn überhaupt, dann für das Verunglücken der Wiedervereinigung und die unaufhaltsame Infantilisierung dieses Landes.
JF 10/12