Mit zwei Resolutionen, eine in Richtung Türkei, eine in Richtung Rußland, hat das Europaparlament in der Vorwoche nochmals sein ganzes Wertebewußtsein mobilisiert. Schwer gebeutelt nach den Tiefschlägen Brexit und Trump, im Inneren bedroht vom Zulauf der Rechtskonservativen, jenseits der Grenzen die selbstbewußten, autoritär regierenden Präsidenten Wladimir Putin und Tayyip Erdogan – die Lordsiegelbewahrer der Nachkriegsidee vom einigen und vereinten europäischen Kontinent haben derzeit einen schweren Stand.
Um so heftiger die Putin- und Erdogan-Schelte aus dem Mund eines der schärfsten Europa-Falken, des ehemaligen belgischen Premierministers Guy Verhofstadt (Flämische Liberale): Die beiden „schlagen auf Europa, auf unsere Werte und auf unsere europäische Demokratie ein“. Letzte Woche hat das EU-Parlament zurückgeschlagen. Mit großer Mehrheit forderten die Abgeordneten in zwei Resolutionen den Abbruch der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sowie Gegenmaßnahmen gegen „russische Propaganda“.
Anti-Kreml-Hardliner einsam auf weiter Flur
Der Kreml, so die Vorwürfe, verzerre Wahrheiten, schüre Angst und Zweifel, wolle Europa spalten und einen Keil zwischen Europa und die USA treiben. Doch ist die „klare Kante“ der Supereuropäer in Straßburg überhaupt noch mehr als Pfeifen im Wald? Mit dem Sieg von François Fillon bei den Urwahlen der französischen Konservativen ist das Ende der westlichen Allianz gegen Putin absehbar.
Ohne die Engländer (die sind mit ihrem Brexit beschäftigt), ohne die USA und ohne Frankreich stehen die Anti-Kreml-Hardliner in Berlin, Warschau und den drei baltischen Staaten recht einsam auf weiter Flur. Richtig spannend wird es um den EU-Türkei-Asylpakt. Darin verpflichtet sich die Türkei, die rund 3 Millionen Bürgerkriegsflüchtlinge auf ihrem Territorium nicht in die EU ausreisen zu lassen.
Beitrittsverhandlungen nur noch Staffage
Bislang steht Ankara zum türkischen Teil der Vereinbarung; auf EU-Seite sieht das seit dem mißratenen Militärputsch in der Türkei schon anders aus. Mehr als hunderttausend angebliche Erdogan-Gegner mußten seither ihre Posten räumen, Redaktionen wurden geschlossen, Oppositionelle sanktioniert. In Europa stellt man sich die Frage: Warum den Türken da noch Visafreiheit einräumen? Warum Milliarden zahlen an Ankara, wenn sowieso nichts aus der großen gemeinsamen Zukunft wird?
Daß der Enthusiasmus verflogen ist, daß die 2009 aufgenommenen Beitrittsverhandlungen nur noch Staffage sind, wissen sowieso alle Beteiligten. Allein, in Europa scheut man sich, der Wahrheit ins Auge zu sehen. Solange es die geostrategische Vorgabe gibt, den Nato-Verbündeten Türkei in das europäische Haus zu integrieren, kann nicht sein, was nicht sein darf.
In der gegenwärtigen Situation prallen Geostrategie und Gesinnungsethik, die im europäischen Projekt eng miteinander verflochten sind, frontal aufeinander. Setzen die Moralisten sich durch, ist das Flüchtlingsabkommen absehbar am Ende. An und für sich gesehen wäre das nicht tragisch; selbstverständlich können die Europäer ihre Außengrenze auch mit eigenen Ressourcen schützen. Allerdings nicht ohne den Einsatz hoheitlicher Gewalt. Abschiebungen, letztlich der Gebrauch von Schußwaffen – vielen in Europa ist das nicht (mehr) zuzumuten.
Drei Alternativen
Es gibt drei Alternativen. Die eine: Europa reizt die Türkei nicht bis zu dem Punkt, an welchem sie den Flüchtlingspakt aufkündigt. Die zweite: Europa verweigert sich allen Kompromissen mit der Türkei und schützt seine Grenze selbst. Die dritte: Weder gibt es Kompromisse mit Erdogan noch werden Zuwanderer abgewiesen – also Flüchtlingskrise 2.0.
Für Deutschland ist Variante drei die wahrscheinlichste. Warum? Zwei Gruppen teilen sich hierzulande die wirkliche politische Macht: Volksvertreter mit einem hohen Maß an Handlungsvollmacht und Medien mit einem hohen Maß an Sendungsbewußtsein. In reichlich falsch verstandener Vergangenheitsbewältigung wohnt beiden Gruppen das primäre Ziel inne, sich nie wieder moralisch zu verschulden. Eher wälzt man die realen Probleme auf die Bevölkerung ab, im Fall der maßlosen Zuwanderung auf die Landräte und Verwaltungen, auf die Hilfsorganisationen, die Polizei und letzten Endes auf jeden einzelnen Bürger.
Außerdem existiert immer die Hoffnung, daß die Balkanländer mit ihren Zäunen die Drecksarbeit erledigen. Die Gesinnungsethiker sind fein raus. Sie haben Erdogan in die Schranken gewiesen und Putin gezeigt, was eine Harke ist. Sie schauen morgens in den Spiegel und sind stolz. Und wenn Frau Merkel wieder ihre schönsten drei Worte spricht – „Wir schaffen das“ –, meint sie eigentlich: „Die schaffen das.“ Sie meint uns. Sie sagt es nur nicht so.