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Protestkultur: Im Osten sitzt die Wut tief

Protestkultur: Im Osten sitzt die Wut tief

Protestkultur: Im Osten sitzt die Wut tief

Demo ist Osten Deutschlands
Demo ist Osten Deutschlands
Demonstranten bei der von der AfD organisierten Demonstration zwischen Bundeskanzleramt und Reichstagsgebäude. Foto: Picture Alliance
Protestkultur
 

Im Osten sitzt die Wut tief

Der besondere Unmut der Ostdeutschen wurzelt in den Erfahrungen der Nachwendezeit. Sie sind als Erbauer zornig, daß die aktuelle Politik ihr Geschaffenes so leichtsinnig verspielt. Sie glauben aber noch weiter an die Kraft der Demonstration.
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Im Osten gehen die Leute wieder gepflegt spazieren – nicht mit Trillerpfeife und schäumender Wut im Bauch, sondern vernünftig und gesittet, als letzte höfliche Geste vor der Insubordination. Diese Leute sind keine „Wutbürger“, wie sich die westdeutsch-dominierte Medienlandschaft sprachlich geeinigt hat, sondern unterschiedlichste Normalbürger, die in den Zustand der materiellen Notwehr treten. Unter der amtierenden Regierung wird ihnen das letzte Geld aus der Tasche gezogen und das zerstört, was sie sich mit viel Mühe in den vergangenen 30 Jahren aufgebaut haben. 

Dasselbe geschieht übrigens auch in anderen europäischen Ländern – und zwar in Ost- und Westeuropa gleichermaßen. In Prag oder Paris demonstrieren wöchentlich Zehntausende. Ganze Regierungen werden abgewählt und durch konservative ersetzt, im Norden wie im Süden Europas. Nur (West-)Deutschland scheint sich von all dem nicht betroffen zu fühlen: Finanzmarktkrise, Währungskrise, Energiekrise, Demographie- und Integrationskrise. Wie eine Insel im Auge des Sturms fahren die Leute weiterhin gemütlich in den Urlaub.

Vermögen und Einkommen teilt Deutschland

Die materielle Fallhöhe im Osten Deutschlands ist erheblich kürzer als in vielen Regionen des Westens. Hier wohnen Menschen, bei denen es gleich ums Ganze geht, wenn die Preise unverschämt steigen. Die drei Landkreise mit dem höchsten Anteil an Geringverdienern liegen in Sachsen (zwei) und Thüringen, die drei Landkreise mit dem niedrigsten Anteil befinden sich in Niedersachsen, Bayern und Baden-Württemberg.

Wenn man Statistiken wälzt, fällt einem immer wieder die imaginäre Teilungsgrenze auf: nicht unbedingt nur bei Vermögen und Einkommen, wie der Bericht des Ostbeauftragten richtig darstellt, sondern vor allem bei Themen wie Erbe, Zusatzrenten oder Immobilienbesitz. Ein mißlich werdender Alltag läßt sich eben nicht aussitzen.

Schon 1919 warfen aufgebrachte Kriegsversehrte den sächsischen Kriegsminister Gustav Neuring (SPD) nach einer öffentlichen Rede in Dresden in die Elbe und erschossen ihn, als er an Land schwimmen wollte. Neuring hatte die Arbeiter- und Soldatenräte aufgelöst und Kriegsversehrten mitgeteilt, daß ihre Pensionen gekürzt werden sollten.

Der Staat enteignet seine Bürger

An solch einem Punkt sind wir nicht, aber die Lage ist ernst. Vielleicht kommt es nicht zu flächendeckenden Unruhen. Die ostdeutsche Bevölkerung hat ein hohes Durchschnittsalter, sie ist „erschöpft“, wie es der Ostbeauftragte ausdrückt. Es geht auch nicht darum, daß viele Ostdeutsche nicht anpacken wollten – sie können einfach nicht mehr entdecken wofür!

Der Staat enteignet seine Bürger auf vielfältige Weise. Das kann man natürlich in das Narrativ der neuen Bescheidenheit kleiden, wie es gerade bundespolitisch aufgebaut wird. Da schüttelt der Osten allerdings den Kopf – schließlich lebt man hier schon seit 30 Jahren zwar viel besser, aber immer noch relativ bescheiden. Das kann auch gerne so bleiben. Doch weiter runter geht es nicht, wenn die Politik nicht Zivilisationsverluste riskieren will.

Im Westen dominieren Erbengenerationen den öffentlichen Diskurs, im Osten ist es neben westdeutsch geprägten Eliten vor allem die Erbauergeneration, die sich öffentlich äußert. Der Ostbeauftragte reflektiert das und verspricht in seinem Bericht, mehr Ostdeutsche in Führungspositionen zu bringen. Das hat zwar einen Hauch von Trümmerfrauenromantik, ist aber in der Sache nicht falsch. Die Erbauergeneration hat den Aufbau Ost gemacht. Sie hat noch die Schwielen an den Händen und den krummen Rücken. Sie bringen viel Know-how und Kompetenz mit. Und ihr Zorn sitzt tief. 

Hat der Osten 30 Jahre verschwendet?

Es ist ein ruhiger Zorn, der nicht polternd daherkommt. Aber er entwickelt sich zu einer tiefen Verachtung eines als westdeutsch angesehenen „Schwätzertums“ von nicht-, halb- oder manchmal auch Ganzstudierten, die sich selbst für klug halten und andere für uninformiert und zurückgeblieben.

Ob in Thüringen eine Wahl rückgängig gemacht wird und Neuwahlen für 2021 versprochen, aber nicht durchgeführt werden; ob man in Berlin Wahlen manipuliert, nachträglich erwischt wird und trotzdem nicht ordentlich neu wählen will, um die Linke im Bundestag als Ersatzpartner für Rot-Grün in der Hinterhand zu haben, falls die Liberalen schlappmachen; oder ob man alle Zweifel und Fragen, die eine Demokratie und Diskursgemeinschaft erst ausmachen, als rechtsradikal abtut, weil die Regierenden eine offenbar eher eingeschränkte Weltsicht haben: all das führt dazu, auch die Demokratie nicht mehr ernst nehmen zu können, obwohl das die meisten gerne würden. 

Merkt die Politik überhaupt, was sie damit anrichtet? Die ausgesessenen Krisen und die aktuelle chaotische Regierungspolitik zerstören die individuellen Leistungen der vergangenen 30 Jahre so gründlich, daß sich die Leute fragen, ob sie ihr Leben verschwendet haben.

Nur noch ein Drittel ist zufrieden mit der Demokratie?

Ihre Arbeit, ihr Einsatzwille und ihre Schaffensfreude werden rasant entwertet, von Würdigung ganz zu schweigen. Wer es sich materiell leisten kann, reagiert mit Sarkasmus oder wandert aus. Andere ziehen sich phlegmatisch zurück. Wieder andere glauben den Medien nicht mehr und nutzen unter anderem auch die Demonstrationen zum Informationsaustausch und zur Selbstvergewisserung. 

Im Westen sind nicht mal mehr zwei Drittel mit der Demokratie zufrieden, im Osten noch etwas mehr als ein Drittel. Diese Befunde interpretieren die Medien dann gerne wohlfeil und denkfaul. Die Menschen im Osten seien eben nicht so richtig in „unserer Demokratie“ angekommen. Ich beobachte das anders: es sind sehr viele Menschen, die die öffentlichen Instrumente unserer Demokratie und deren Funktionen sauber einschätzen können. Sie lehnen diese Manipulationen innerlich und intellektuell beleidigt ab.

Die Leute glaube an die Kraft der Demonstration

Oft geht es auch nicht um Kritik an der Demokratie, sondern an der konkreten Regierungspolitik. Das erklärt auch, warum die Leute innerhalb des demokratischen Rahmens noch immer an die Kraft der Demonstrationen glauben. Sie wollen nicht unbedingt die Regierung absetzen oder die Demokratie abschaffen. Die Menschen wollen, daß die Regierung eine der Bevölkerung zuträgliche Politik macht: pragmatisch, verständlich und aus der ideologischen Umklammerung der Parteien befreit. „Energie statt Ideologie“ setzt das als Slogan gut ins Bild. 

Noch jedenfalls drückt Westdeutschland auf die Schlummertaste. Ostdeutschland ist alarmiert. Welchen Weg nimmt die Bundesrepublik Deutschland in den nächsten 25 Jahren? Es geht um mehr als nur das demokratische Rechte- und  Pflichtenheft. Unsere gemeinsame Existenzgrundlage steht auf dem Spiel, wenn die soziale Spreizung weiter wächst und der Zusammenhalt erodiert.

JF 42/22

Demonstranten bei der von der AfD organisierten Demonstration zwischen Bundeskanzleramt und Reichstagsgebäude. Foto: Picture Alliance
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