Das Handy vibriert mehrmals. Eine Push-Nachricht jagt die nächste. Die Nachrichten-Apps laufen heiß. „Ein Toter bei mutmaßlich islamistischem Messerangriff in München“ oder „Täter soll ‚Allahu akbar’ gerufen haben – Mann sticht nahe München wahllos auf Menschen ein“, lauteten die Titel von Eilmeldungen zweier deutscher Zeitungen am Dienstag morgen.
Ist der islamistische Terror, der es auf brutalste Weise auf unschuldige Menschen abgesehen hat, nun auch in Deutschland angekommen? In den Kommentarspalten von Medien und in den sozialen Netzwerken kursieren schon nach wenigen Stunden Gerüchte über den Tathergang und –hintergrund. Aber vor allem über den mutmaßlichen Täter, der noch am Ort des Geschehens überwältigt und festgenommen werden konnte.
Islamismus, Emotionen und Vertuschung
Dieser schrie während der Messerattacken auf vier Männer „Allahu akbar“ („Allah ist groß“) und „Du bist ein Ungläubiger, du mußt sterben“. Eines der Opfer erlag seinen schweren Verletzungen im Krankenhaus, ein weiteres schwebt in Lebensgefahr. Damit waren zwei der drei Zutaten gegeben, die ein Verschwörungs-Cocktail braucht: Islamismus („Allahu akbar“-Rufe) und Emotionen.
Auch die dritte Zutat schien gegeben, da viele Medien unter Berufung auf den Bayerischen Rundfunk von einer Nachrichtensperre sprachen. Hinzu kam die Nachricht, daß der Festgenommene in psychiatrischer Behandlung gewesen sei und Drogenprobleme habe. Im Laufe des Tages ließen Polizei und Staatsanwaltschaft immer mehr Informationen durchsickern. Einige Zeitungen fanden den Namen des mutmaßlichen Täters heraus: Paul H.
Gerüchte verbreiten sich im Internet rasant
Das Internet lebt schnell. Auf unzähligen Blogs und Seiten sozialer Medien verbreiteten sich Gerüchte, wonach Polizei und Medien die angeblich islamistische Tat herunterspielen wollten. Die Lügenpresse-Vorwürfe seien schon wieder bestätigt worden. Der Staat vertusche eine islamistische Terror-Attacke, lautete der Tenor. Denn Blogger wollen längst herausgefunden haben, daß der Messerstecher nicht Paul H., sondern Rakif Y. heißt.
Auf Facebook wunderten sich Nutzer auf Polizei- und Medienseiten, warum der Name nicht oder falsch genannt werde. Auch die JUNGE FREIHEIT erhielt mehrere Leseranfragen, warum der Name Rakif Y. nicht in der Tatmeldung auftauche. Das Bayerische Landeskriminalamt (LKA) sah sich gezwungen, am Mittwoch vormittag eine Klarstellung auf Facebook zu veröffentlichen.
Darin reagieren die Beamten auf die verbreitetsten Gerüchte über die Tat in Grafing. Es gebe „keinen Zweifel an der berichteten Identität des Festgenommenen“, teilte das LKA mit. „Es gibt und gab zu keinem Zeitpunkt eine Nachrichtensperre, auch wenn das fälschlicherweise vereinzelt von Medien so berichtet wurde.“
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Was war der Grund für die Gerüchte um den angeblich richtigen Namen des Täters und die angeblichen Vertuschungsversuche von Polizei und Medien? Der ehemalige Musikproduzent Marco Delgardo veröffentlichte auf seinem Blog unter Berufung auf „gute Kontakte in Polizeikreise“ die vermeintlich brisante Information. Diese übernahm der Chefredakteur des Querfront-Magazins Compact, Jürgen Elsässer, und verbreitete unter der Überschrift „Islamistischer Terror in Grafing bei München? Davon will die Lügenpresse nichts wissen“ Delragos Informationen auf seinem Blog weiter. Später nahm er einen Teil der Behauptungen zurück.
Der Beitrag schaffte es am Mittwoch sogar in die 50 in sozialen Netzwerken meistgeteilten Medienbeiträge. Zahlreiche kleinere Blogs und Facebook-Seiten übernahmen das Gerücht weiter. Der Beleg, so die Betreiber der Webseiten, sei schnell gefunden. Man brauche einfach nur bei ausländischen Medien im Zusammenhang mit der Tat in Grafing lesen.
Der tote Rakif Y.
Tatsächlich taucht der Name Rakif Y. in Meldungen zu der Messerattacke in vielen ausländischen Zeitungen auf. Wer selbst überprüfen wollte, ob das Gerücht wirklich stimmt, konnte via Suchmaschinen ausländische Zeitungen mit den Schlagworten „Rakif“ und „Grafing“ absuchen und wurde schnell fündig. Allerdings in einem anderen Zusammenhang. Die meisten der als Quelle genannten ausländischen Medien erwähnten Rakif Y. am Ende ihrer Meldungen und Berichte als Beispiel für einen islamistischen Täter mit psychischen Problemen. Nicht aber als Täter von Grafing. Denn das wäre auch gar nicht möglich gewesen. Rakif Y. ist 2015 in Berlin erschossen worden, nachdem er eine Polizistin mit einem Messer angegriffen und verletzt hatte.
Der Fall zeigt, daß viele Medienkonsumenten journalistische Inhalte kritisch konsumieren und längst nicht jede Information von konventionellen Medien und Polizei unhinterfragt glauben – ein Zeichen von Mündigkeit. Er zeigt aber auch, wie schnell diese Mündigkeit wieder abnimmt, wenn schlampig arbeitende Blogbetreiber, die als Sprachrohre dieses Aufgeklärtseins gelten wollen, falsche Informationen verbreiten. Kritisch sein heißt, immer und überall kritisch sein.