Der Anschlagtod der jungen russischen Politologin Darja Dugina hat nach fast einer Woche nichts von seiner Brisanz verloren. Obwohl russische Behörden innerhalb weniger Stunden eine Ukrainerin als Hauptverdächtige benannten und dazu auch passende Videoaufnahmen und biographische Hintergrunddaten anführen konnten, reißt die Debatte um die wahren Hintermänner des Attentats nicht ab. Denn die Ermordung der 29jährigen Tochter des Philosophen Alexander Dugin durch eine ukrainische Agentin erscheint vielen unerklärlich.
Sicher, so wie ihr Vater auch hatte Dugina seit Beginn des Ukraine-Krieges das Vorgehen der russischen Armee verteidigt und Teile der ukrainischen Politik scharf angegriffen. Doch verglichen mit ihrem berühmt-berüchtigten Vater war der Einfluß der jungen Frau auf die russische Außenpolitik eher gering.
Hinzu kommt die in Europa beispiellose Aufrüstung der russischen Sicherheitsorgane im Inland. KI-gestützte Videoüberwachungssysteme aus chinesischer Produktion überziehen Teile Moskaus mit einem engmaschigen Netz aus Kameras. Darja Dugina soll – so die offizielle Angabe der russischen Ermittler – in ihrem Wohnblock ausspioniert worden sein; in einer gut gesicherten Wohnanlage in einem Moskauer Vorort. Ein heikles Unterfangen für die angebliche Agentin, Natalia Vovk.
Angebliche Verdächtige lebte in Duginas Siedlung
Auch die eigentliche Ermordung Duginas hinterläßt mehr Fragen als Antworten. Ein Sprengsatz zerriß das Auto ihres Vaters auf dem Rückweg von einem Folkfestival außerhalb der Hauptstadt. Dugin selbst fuhr in einem anderen Wagen zurück. Der russische Inlandsgeheimdienst gibt unter anderem in seiner Stellungnahme an, Dugina sei gezielt ausspioniert worden doch das Attentat hätte auch ihren Vater oder beide gleichzeitig treffen können.
Warum Natalia Vovk sich ungehindert in der Gegend der Wohnanlage aufhalten konnte, Duginas Gewohnheiten ausspionieren konnte und sogar eine Wohnung in derselben Anlage anmieten konnte, bleibt rätselhaft. Die angebliche Täterin soll mit ihrem Kind wenige Monate zuvor eingereist sein. Kann eine alleinerziehende Mutter innerhalb weniger Wochen einen erfolgreichen Anschlag auf die Tochter eines einflußreichen Mitglieds der russischen Gesellschaft verüben und dabei nicht in das eng geknüpfte Netz eines leistungsfähigen Inlandsgeheimdienstes geraten?
Nicht nur in der Ukraine halten viele dieses Narrativ für wenigstens unwahrscheinlich. Beobachter im Westen verweisen auch auf eine mysteriöse Todesserie unter russischen Oligarchen in den vergangenen Monaten. Im Jahr 2022 hatten sich bereits sieben Personen aus der kleinen Schicht entweder selbst oder nach Morden an ihren Familien und Kindern umgebracht, darunter auch ein Topbeamter, der Berichten zufolge zeitweise die Aktentasche mit den russischen Atomwaffencodes trug.
Ex-Duma-Abgeordneter bringt Tatverdächtige ins Spiel
Tatsächlich hatte sich Duginas Vater in der Vergangenheit auch im Kreml nicht nur beliebt gemacht. Der streitbare Philosoph, der zeitweise Mitglied der verbotenen nationalbolschewistischen Partei war, galt zwar als Stichwortgeber der Putinlinie in der Außen- und Kulturpolitik, scheute aber auch nie davor zurück, den Hausherrn im Kreml mitunter scharf zu kritisieren. Auch wenige Tage vor dem Anschlag tat Dugin dies, als er die Strategie in der Ukraine bemängelte und sogar eine personelle Veränderung in der Regierung anmahnte.
Die ukrainische Regierung und vor allem westliche Nachrichten verweisen gern auf diese Zusammenhänge, wenn sie den russischen Inlandsgeheimdienst FSB zu einem der Hauptverdächtigen in der Mordsache erklären. Das russische Kalkül, so die Vertreter dieser These, ist einfach: Putin zwinge seine Eliten, die Reihen zu schließen und erhalte so auch die Rechtfertigung für eine Generalmobilmachung um den Krieg zu gewinnen.
Dieser eingängigen These widerspricht aber das Statement von Ilja Ponomarjow, einem ehemaligen Duma-Abgeordneten, wonach sich eine russische Oppositionsgruppe namens „Nationale Republikanische Armee“ zu dem Anschlag bekannt habe. Diese bisher unbekannte Gruppe bestehe aus oppositionellen Russen die „den Kampf im Inneren“ Rußlands aufnehmen wollen. Dugina und ihr Vater könnten tatsächlich als Putins ideologische Streiter auf eine Todesliste der Opposition geraten sein. Allerdings gibt es bisher keinerlei Anzeichen für einen breiten, bewaffneten Widerstand im Land. Putins Umfragewerten dürften unverändert relativ hoch sein.
Asow verfolgt eigene Agenda
In Frage kommt auch ein Attentat ukrainischer Paramilitärs. Natalia Vovk soll über Verbindungen zum Bataillon Asow verfügen, zeitweise dort sogar Mitglied gewesen sein, wie eine russische Hackergruppe herausgefunden haben will. Daß der ukrainische Präsident jede Beteiligung seiner Regierung abstreitet, könnte also der Wahrheit entsprechen. Die Gruppe Asow betreibt seit Jahren eine höchst eigenständige Politik und verfolgt eine eigene Agenda. Dugina und ihr Vater hatten die Gruppe zuletzt mit äußerst aggressiver Rhetorik überzogen.
Ausgeschlossen werden kann schlußendlich auch nicht die tatsächliche Beteiligung der ukrainischen Regierung. Der Krieg spielt sich bisher ausschließlich auf ukrainischem Territorium ab, die Streitkräfte des Landes leisten einen zähen Widerstand, spektakuläre Erfolge blieben bisher aber aus. Ein Anschlag auf russischem Boden könnte hier einen Ausweg aus der prekären Lage geboten haben und der Elite des Kriegsgegners die eigene Verwundbarkeit vor Augen geführt haben. Dann dürfte das eigentliche Ziel des Anschlags aber tatsächlich eher Dugin selbst gewesen sein.