Konrad Adenauer und Helmut Kohl haben ihre Erfahrungen als Bundeskanzler unter dem Titel „Erinnerungen“ vorgelegt. Angela Merkel hat ihren Erinnerungen den programmatischen Titel „Freiheit“ gegeben. Sie hat aber nicht ausgeführt, wie sie sich als Kanzlerin für die Freiheit der Bürger eingesetzt hat. In demokratisch verfaßten Staaten besteht die freiheitssichernde Macht der Bürger darin, daß sie Regierungen bestätigen oder abwählen können und die von ihnen gewählten Abgeordneten in ihrem Sinne auf die Politik einwirken.
Wir wollen prüfen, ob sich Angela Merkel bei ihren Entscheidungen am Willen des Parlaments orientiert hat oder ob die Abgeordneten die Entscheidungen der Kanzlerin bloß abgenickt haben. Wir greifen die Europäische Währungsunion (EWU) als ein Politikfeld heraus, das jetzt und in Zukunft das Leben der Bürger bestimmt. Die derzeitige Verfassung der EWU ist maßgeblich durch Angela Merkels Entscheidungen geprägt worden.
Angela Merkel schreibt, daß Helmut Kohl ihr mit der Gründung der EWU eine schwere Hypothek hinterlassen habe. Sie hat recht. Um den Bestand der Europäischen Union zu sichern, hatte Kohl den Forderungen von François Mitterrand nachgegeben und die D-Mark geopfert. Eine Währungsunion kann als Stabilitätsunion nur überleben, wenn sich deren Mitglieder an gemeinsame Regeln halten.
In aller Eile wird ein Rettungspaket geschnürt
Die EWU begann mit Vertragsbrüchen. Besonders kraß war der Fall „Griechenland“. Wegen unsolider Haushaltsführung stand dieses Land im Frühjahr 2010 unmittelbar vor dem Staatsbankrott. Angela Merkel hatte zunächst im Bundestag gemeinsam mit Wolfgang Schäuble für ein Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone plädiert. Doch wurde der politische Druck auf Angela Merkel und auch der Druck europäischer Banken, die bei einem Ausscheiden Griechenlands erhebliche Verluste erlitten hätten, immer stärker.
Sie hat schließlich nachgegeben. Bundestag und Bundesrat haben in aller Eile ein Rettungspaket geschnürt, das am 8. Mai 2010 in Brüssel zusammen mit Paketen aus anderen Staaten verabschiedet werden sollte. Die Öffentlichkeit erfuhr am Morgen des 9. Mai 2010, daß die Staats- und Regierungschefs nicht bloß Griechenland vor dem Konkurs bewahrt, sondern zusätzlich einen Rettungsschirm in Höhe von 750 Milliarden Euro beschlossen hatten – eine Entscheidung an den nationalen Parlamenten vorbei.
In der Nacht vom 8. auf 9. Mai muß es heiß hergegangen sein, doch klären weder ein Protokoll noch offizielle Statements darüber auf, wie diese Entscheidung zustande gekommen war. Auch Merkel schweigt sich in ihren Erinnerungen darüber aus. Wenige Tage später hat sie im Bundestag über diese Beschlüsse abstimmen lassen. Doch lag noch kein Gesetzestext vor; an dem wurde noch in britischen Kanzleien gefeilt.
„Whatever it takes“
Diese Nacht hat Europa verändert. In Artikel 125 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) war vereinbart worden, daß weder ein einzelnes Mitgliedsland noch die Gemeinschaft für die finanziellen Verpflichtungen eines Mitgliedstaates einstehen – die sogenannte „No-Bailout-Klausel“. Ein Mitgliedstaat war selbst für finanzielle Stabilität verantwortlich, wenn er ein Ausscheiden aus der Eurozone vermeiden wollte.
Wenn sich dagegen ein Land bei Notlagen an die Gemeinschaft wenden kann, ist der Einstieg in den Währungssozialismus vollzogen. Die weiteren währungspolitischen Entscheidungen zur Absicherung der EWU waren Konsequenz dieser politischen Weichenstellung. Dazu gehört die zwischen den Regierungschefs abgestimmte Bürgschaftserklärung, die Mario Draghi als Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) auf einer Investorenkonferenz in London am 29. Juli 2012 abgegeben hat: Die EZB steht hinter dem Euro – „whatever it takes“.
Dazu gehört auch die faktische Finanzierung der Staatshaushalte über den Ankauf von Staatsanleihen über die Sekundärmärkte. Damit war die Aufgabenstellung für die EZB überdeterminiert: Zusammenhalt der EWU einerseits und Sicherung der Geldwertstabilität andererseits. Bei Konflikten war für die EZB der Zusammenhalt der EWU vorrangig. Diese Entwicklung hat sich ohne Mitwirkung des Parlaments vollzogen.
Merkels Politik hat das finanzielle Fundament der Bürger ausgehöhlt
Es tat sich noch einmal eine Möglichkeit auf, den Weg in die Schuldenunion zu stoppen. Griechenland blieb das Sorgenkind in der EWU. Es war den Auflagen zur Sanierung des Staatshaushalts nicht nachgekommen. Im Frühsommer 2015 kulminierte die Krise derart, daß die Mehrheit der Finanzminister der Eurozone – bis auf Griechenland, Frankreich, Italien und Zypern – nicht mehr bereit waren, Griechenland weiter zu kreditieren.
Griechenland hätte aus der Eurozone ausscheiden müssen. Doch dann intervenierte der französische Staatspräsident François Hollande bei Angela Merkel. Die Konsequenz war, daß die Regierungschefs sich gegen das Votum ihrer Finanzminister aussprachen. Schäuble wurde von seinen Kollegen gefragt, warum die Kanzlerin ihm in den Rücken gefallen sei. Er beugte sich – obwohl entschieden anderer Meinung – dem Votum seiner Kanzlerin, da sie die europäischen Konsequenzen einer Staatspleite Griechenlands und seines Ausscheidens aus der Eurozone zu bedenken gehabt hätte.
Aber genau aus diesem Grund hätte sie sich einem Ausscheiden Griechenlands nicht in den Weg stellen dürfen. Der Verbleib Griechenlands signalisierte, daß die Mitgliedschaft in der EWU auf ewig festgeschrieben sei. Dann ist nationale finanzpolitische Solidität zweitrangig. Jüngstes Beispiel ist Frankreichs Schuldenlawine.
Merkel sieht sich durch Macron gezwungen
Ein weiteres Beispiel für Angela Merkels Entscheidungen, die sie ohne Mitwirkung des Parlaments getroffen hat, war die Einrichtung eines Fonds, den sie zusammen mit Emmanuel Macron zur finanziellen Abfederung der sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise konzipiert hatte. Erstmals sollte die EU-Kommission ermächtigt werden, sich die für den Fonds notwendigen Mittel am Kapitalmarkt zu besorgen.
Der Fonds umfaßt inzwischen 806,9 Milliarden Euro. Eine finanzielle Praxis, bei der die einen haften und die anderen das Geld ausgeben, hatte Deutschland bisher strikt abgelehnt – „mit guten Gründen“, wie die Kanzlerin selbst sagt. Sie fügt hinzu: „Aber jetzt war der richtige Zeitpunkt, über meinen Schatten zu springen.“ In Wahrheit ist sie nicht über ihren Schatten, sondern über den ihrer Bürger gesprungen.
Diese müssen einspringen, wenn ein anderes Land nicht mehr für Zinsen und Schulden aufkommen kann. Angela Merkels CDU/CSU-Fraktion sah sich gezwungen, dem Arrangement von Macron und Merkel im Bundestag zuzustimmen, weil sonst die eigene Regierung zu Bruch gegangen wäre.
Das Urteil lautet: „Nein“
Eine Besonderheit zum Schluß. Im Personenregister wird Angela Merkels Mann, Joachim Sauer, öfter genannt als jede andere Person, obwohl er auf der politischen Bühne keine Rolle gespielt hat. Doch läßt Merkel Vorgänge unerwähnt, die den Leser wirklich interessiert hätten. Nach dem Ende der Amtszeit des EZB-Präsidenten Mario Draghi hätte Jens Weidmann sein Nachfolger werden sollen.
Alle Welt hatte sich darauf eingestellt. Zur Überraschung aller Zuschauer zauberten Macron und Merkel plötzlich Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin aus dem Hut. Damit war der Weg für Weidmann versperrt. Nun konnte Emmanuel Macron Christine Lagarde, die frühere französische Finanzministerin, als EZB-Präsidentin inthronisieren. Warum Merkel weder Axel Weber, den früheren Bundesbankpräsidenten, noch Jens Weidmann als EZB-Präsidenten sehen wollte, kann nur vermutet werden. Die deutschen Kandidaten hätten sich an die rechtlichen Vorgaben gehalten und nicht politischen Zumutungen gebeugt. Deswegen waren sie nicht gewollt.
Das Urteil, ob Angela Merkel für die Freiheit der Bürger gearbeitet hat, lautet „Nein“. Die Abgeordneten konnten nicht im Sinne ihrer Wähler auf die Politik Einfluß nehmen; sie sahen sich vielmehr gezwungen, Merkels Vorgaben zu folgen. Merkels eigenmächtige Politik hat das finanzielle Fundament der Bürger ausgehöhlt: Die Schuldenunion schwebt wie ein Damoklesschwert über den Köpfen der Bürger.