Düstere Sätze leiten Mariam Kühsel-Hussainis neuen Roman „57“ ein: „Deutschland. Es ist aus. Zum Vorschein kommt Stille. Eine Stille, die sich durch die untoten Schädellöcher stehengebliebener Fassaden zieht, die farblos herumstehen, als könne ein letzter Hauch vertrockneter Lippen sie fortwehen.“ Wir schreiben das Jahr 1949, befinden uns in Nürnberg, in der Stadt der Goldenen Bulle, der Reichskleinodien, der Meistersinger, der Reichsparteitage und der Nürnberger Prozesse.
Vor allem ist es die Stadt Albrecht Dürers. Erinnerungssplitter aus dem Krieg blitzen auf, aus dem Bombenkrieg, als Menschen in „klebrige Aschenteile“ zerfielen.
Die Sätze scheinen eine Fortschreibung der sogenannten Trümmerliteratur anzukündigen, die nach 1945 die Szene beherrschte und sich mit den Anfängen der „Gruppe 47“ verbindet. Doch diese Erwartung bleibt unerfüllt. Synonymisch wird sie auch Kahlschlag-Literatur genannt, weil sie Traditionsbestände konsequent beiseite schob und eine „Stunde Null“ proklamierte. Auf dem freigeräumten Terrain etablierte sich eine „engagierte“, politisierte Literatur, die nach deutscher Schuld bohrte, deutsche Irr- und Sonderwege kritisierte und eine konsequente Vergangenheitsbewältigung einforderte, während die Traumata, die Bombenkrieg, Vertreibung und Siegerwillkür hervorgerufen hatten, unterbelichtet blieben.
Porträt des westdeutschen Zivilisationstyps
In den Figuren dieser Nachkriegsliteratur „entwickelte sich aus den Schuldigen des Krieges der westdeutsche Zivilisationstyp“, schrieb Frank Schirrmacher, damals Literaturchef der FAZ, in einem am 2. Oktober 1990 veröffentlichten Aufsatz. Er war übertitelt: „Abschied von der Literatur der Bundesrepublik“. Seither hat unter den Literaten ein natürlicher Generationenwechsel stattgefunden, doch der anachronistische Zivilisationstyp hat sich bis heute erhalten.
Die Hauptfigur im Roman von Mariam Kühsel-Hussaini ist von ganz anderer Qualität. Ein Mann von knapp 50 Jahren, der das notdürftig instand gesetzte Albrecht-Dürer-Haus betritt und im Tauschhandel ein Buch mit den Briefen und Tagebüchern des Malers erwirbt. Sein Blick bleibt auf einer Briefpassage haften, in der Dürer vom Adressaten ein Hirschgeweih erbittet, „denn ich will zwei Leuchter daraus machen“.
Das Zitat ist ein chiffrierter Verweis auf sein Bild vom Heiligen Eustachius, das im Hintergrund einen Hirsch mit einem prachtvollen Geweih zeigt. Eustachius – ursprünglich der Schutzpatron der Jäger – wird als Helfer bei schwierigen Lebenslagen und bei Trauerfällen angerufen. Wie auch jetzt, 1949, kurz nach der großen Katastrophe.
Keine klischeehafte Täter-Biographie
Der Besucher akzeptiert keine Stunde Null, keine Tabula rasa. Das Dritte Reich war das gräßlichste Kapitel der deutschen Geschichte, aber es ist kein schwarzes Loch, in dem sie mit allem Guten und Edlen, das es darin gab, auf immer verschwindet.
Der Mann heißt Rudolf Diels und war 1933/34 erster Gestapochef. Der Leser erwartet spontan die übliche Täter-Biographie, die geprägt ist von Karrierismus und Menschenverachtung und später von Verdrängung, Verharmlosung, Schuldabwehr, eben das, was er auf Wikipedia und in dem Buch „Der Überläufer“ von Klaus Wallbaum über Rudolf Diels erfährt.
Wallbaums Buch sei, schreibt Kühsel-Hussaini im Roman, ohne Psychologie und Empathie verfaßt und „selbst der größte Überläufer, der Gegenwart und ihren Postulaten kriecherisch Folge leistend. Die Methode ist aggressiv, schnoddrig und erfinderisch in einer talentfreien Zone.“ Sie hat eigene Recherchen und Archivstudien angestellt und entwirft in ihrem Romanhelden ein Gegenbild zu den vergangenen und gegenwärtigen Überläufern.
Versuch einer Bändigung des Bürgerkriegs
Der 1900 geborene Diels hatte schon in ihrem 2022 erschienen Roman „Emil“ eine tragende Rolle gespielt. Hauptthematisch erzählt dieses Vorgänger-Buch vom Deutschland-Aufenthalt des jungen E.M. Cioran, der 1933 voller NS-Begeisterung nach Berlin kam und 1935 desillusioniert – „ich verlasse den Selbstmord“ – in Richtung Paris abreiste. Diels erscheint hier als „der Samurai inmitten eines wagnerianischen Heldentheaters, das Haar nach hinten geschlagen, auch die Mandelaugen liegen wie in einem (japanischen) Holzschnitt“.
Er war eine facettenreiche Persönlichkeit. Ein Einser-Jurist, Liebling der Frauen, Mitglied der liberalen Demokratischen Partei. 1930 wurde er unter dem SPD-Innenminister Carl Severing zum „Dezernenten zur Bekämpfung der kommunistischen Bewegung“ in der politischen Abteilung der Preußischen Polizei ernannt. Nach dem „Preußenschlag“ 1932 übernahm er die Leitung der Gesamtabteilung.
Er kannte das Ausmaß des Bürgerkriegs, der sich am Ende der Weimarer Republik zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten hochschaukelte. 1933 fiel die Entscheidung, Hermann Göring wurde preußischer Ministerpräsident und Innenminister und wollte seine Machtstellung durch die direkte Eingliederung der Politischen Abteilung in sein Ministerium ausbauen. Er verließ sich auf den Sachverstand von Diels, der seinerseits die Hoffnung hatte, an verantwortlicher Stelle den braunen Bürgerkriegsterror bändigen und zurückdrängen zu können.
Ein neben- und gegeneinander arbeiteten
Er geriet selber in Gefahr, floh vorübergehend in die Tschechoslowakei und die Schweiz und wäre ohne Görings Protektion im Zuge der Röhm-Aktion wohl getötet worden. Diels wiederum hielt seine schützende Hand neben vielen anderen über Konrad Adenauer, der als Hitler-Gegner bekannt und 1933 als Kölner Oberbürgermeister abgesetzt worden war. Später mochte der Kanzler sich an die Hilfe nicht mehr erinnern.
Im Roman verkörpert Diels das Ideal des preußischen Staates, der über den Parteien steht und das Gegenteil zum Totalitarismus jedweder Art darstellt. Kühsel-Hussaini macht anschaulich, wie die Institutionen des Dritten Reiches neben- und gegeneinander arbeiteten und sich daraus Freiräume für humanes Handeln ergeben konnten.
Sogar der Erznazi Göring war anfangs noch vernünftigen Argumenten und Einwänden zugänglich. So erklärt sich die – letztlich illusorische – Hoffnung von Zeitgenossen, mit Geduld und Geschick die NS-Bewegung in rechtsstaatliche Bahnen lenken zu können. Sie alle traf nach 1945 das totalitäre Verdikt Adornos, daß es kein richtiges Leben im falschen gäbe.
Carl Schmitt als Magier
Diels wurde 1944 im Zusammenhang mit dem 20. Juli inhaftiert, war nach dem Krieg drei Jahre lang von den Amerikanern interniert, wurde in den Nürnberger Nachfolgeprozessen als Zeuge aufgerufen und im Spruchkammerverfahren entlastet. Nun bringt ein US-Jeep ihn von Nürnberg nach Hannover, wo er einen Hof besitzt. Der Roman „57“ beginnt, wo Ernst von Salomons „Fragebogen“ aufhört.
Erzählerische Abschnitte werden von essayistischen und surrealen Passagen abgelöst, die Autorin zitiert Archivalien und Briefe. Es gibt drei chronologische Markierungen. 1949 stehen Diels’ Gespräche mit Rudolf Augstein, dem jungen Spiegel-Chef, im Mittelpunkt.
Sie reden über Carl Schmitt und dessen Inhaftierung in Nürnberg. Für Augstein ist er ein Magier, den die Amerikaner fürchten und unwirksam machen wollen. Seine Haft habe er durchgestanden, indem er über die Frage nachdachte: „Was hat der eingedrungene Fremdkörper nunmehr mit unserem Lande vor?“
Den preußisch-deutschen Staatsgedanken auslöschen
Die Sieger wollen, da sind Augstein und Diels sich sicher, den preußisch-deutschen Staatsgedanken auslöschen. Der Spiegel muß daher zum Organ einer „unverfälschten deutschen Innenschau“ werden. Diels Erinnerungsbuch „Lucifer ante portas“ erschien hier als Vorabdruck. Erwähnt wird der junge Nicolaus Sombart, der seinem geistigen Ziehvater Carl Schmitt abschwört und sich als „Weltkind“ geriert.
Diels besucht Winifred Wagner, um Erkundigungen für eine psychologische Studie über Hitler einzuholen. Der Roman ist auch ein Road Movie durch ein verwunschenes Land, das atmosphärisch an die beklemmenden „Europa“-Filme des dänischen Regisseurs Lars von Trier erinnert.
1954 wird deutlich, daß die Bundesrepublik zum Homunkulus mißrät. Breiten Raum nimmt die Affäre um Otto John, den ersten Chef des Verfassungsschutzes, ein, der in britischer Uniform aus dem Exil zurückkehrte und von den Engländern als VS-Präsident durchgesetzt wurde. Am 20. Juli 1954 flüchtete er in die DDR.
„Hysteriker im demokratischen Gewand“
In der Streitschrift „Der Fall Otto John“ stellte Diels die Personalie als Signatur der deutschen Nichtsouveränität heraus, worauf er im Bundestag als „Ratte“ und „giftige Kröte“ beschimpft wurde. Er erwiderte im Spiegel: „Die meisten Deutschen sind auch im demokratischen Gewande, und darin erblicke ich den nachwirkenden Einfluß Adolf Hitlers, Hysteriker geblieben und in öffentlichen Dingen einer sachlichen und offenen Betrachtungsweise nicht fähig.“
Symbolhaft war der Werdegang des Möbel-Unternehmers Hans Knoll, der in den frühen 1930er Jahren als junger, privilegierter Fabrikantensohn aus privaten Gründen über England und die Schweiz in die USA ging, wo er nicht nur geschäftlich erfolgreich war, sondern während des Krieges auch an der Errichtung des „Deutschen Dorfes“ mitwirkte, einem realistischen Nachbau deutscher Wohnanlagen, an denen der effektive Einsatz von Spreng- und Brandbomben erprobt wurde. Nach dem Krieg verdiente er viel Geld mit der Neumöblierung der Bundesrepublik mit Bauhausdesign.
1957 erscheint die Bundesrepublik äußerlich konsolidiert, doch mit dem Verstand eines Zombies ausgestattet – Augstein spricht von einem „Monstrum“. Sehr schlecht weg kommt Konrad Adenauer. In fiktiven Monologen und in Dialogen mit seinem Staatssekretär Globke stellt er sich als US-höriger, machiavellistischer Zyniker und Preußen-Hasser dar, dem die deutsche Einheit nichts bedeutet – eine künstlerisch freie, in ihrer Zuspitzung historisch angreifbare Interpretation.
Der Tod spricht deutsch
Im Interview mit dem Tumult-Herausgeber Frank Böckelmann hat Kühsel-Hussaini moniert, daß die Deutschen weder über historisches Wissen noch über eine unverstellte Sprache verfügten. Beides bedeute Freiheit. „Die hiesigen Menschen aber sollen nicht frei, sie sollen geistig unterdrückt, in aufgeklärter Atmosphäre beschnitten werden.“ Sie fragt: „Wenn ihnen die gigantische deutsche SCHULD genommen würde – was bliebe ihnen dann noch als Eigenes?“
Über drei Romanseiten breitet sie einen in Verse gefaßten neudeutschen Schuld-Katechismus aus: „Die deutsche Grausamkeit ist einzigartig in der Welt … Bomberharris ist kein Mörder! Er war the Wunderkind of the skies! … Wie kannst Du das vergleichen? … Der Tod spricht DEUTSCH! Du bist zu häßlich, um das zu wissen!“ Was uns zu Schirrmachers „Zivilisationstyp“ zurückführt …
Die Autorin verfügt über eine sehr eigene, expressive, farbige, metaphernreiche Sprache, die ihr die Freiheit gibt, beliebige historische Figuren – sogar Hitler – klischeefrei auftreten und reden zu lassen. „Auf Lisas Zunge zerschellte ein Rosenblatt“, heißt es, als Diels’ Partnerin am Alkohol nippt. Die Zwiesprache mit einem Dürer-Bild wird zur Unio mystica: „Tränen umrollten wie in einem Glasperlenspiel Diels’ Lider, als er dastand, allein mit seinem Herzen, in dem sein ganzes Leben lag, und er sah das Bildnis an.“
Eine „Deutsche Trilogie“ über ein krankes Land
Ein West-östlicher Divan in Prosa! Es dürfte sich hier um das „Selbstbildnis im Pelzrock“ handeln, das den Maler in Frontalansicht zeigt, wie es bis dahin nur in Christusbildern üblich war. Der Kunstkritiker John Berger schrieb dazu, Dürer habe nicht gemeint: „Ich sehe mich als Christus“, sondern: „Ich strebe durch das Leiden, das ich erfahren habe, eine Nachfolge Christi an.“
Dürer starb 1528 mit 57 Jahren, Diels im November 1957 gleichfalls 57jährig, als sich aus seinem Jagdgewehr versehentlich ein Schuß löste. Ein bißchen viel an Idealisierung, Einswerdung und Apotheose könnte man meinen, aber sein Tod, wie Kühnel-Hussaini ihn schildert, impliziert die Weigerung, sich den Siegernarrativen zu unterwerfen und wird so zum Opfertod. Zusammen mit dem Roman „Tschudi“, der im Kaiserreich spielt, bilden „57“ und „Emil“ eine „Deutsche Trilogie“ über ein krankes Land.