Die Brandrede von AfD-Chef Jörg Meuthen vom Parteitag in Kalkar hallt immer noch nach. Wie eine auf den Tisch geschlagene Faust wirkte diese Ansprache – und sie führte zu heftigen Reaktionen. Daß einzelne Passagen berechtigte Kritik auf sich zogen (Stichwort Bismarck), ist letztlich nebensächlich.
Entscheidend war, daß endlich Tacheles geredet und nicht zum x-ten Mal alles mit der verlogenen Soße der Harmonie („Seid einig, einig, einig!“) übergossen wurde. Vor der Bundestagswahl 2021 kämpft die AfD nämlich um nichts weniger als ihre Existenz.
Wenn man genauer hinsieht, haben wir es mit dem Sichtbarwerden von Führungswillen und dem notwendigen Abschied vom chaotischen „gärigen Haufen“ zu tun. Rückblickend begann diese Zäsur damit, daß sich Anfang des Jahres eine stabile Mehrheit des Bundesvorstandes um Meuthen entschloß, alles daranzusetzen. Der anschwellende Aderlaß von Angehörigen der Funktionselite, Soldaten, Polizisten, Beamten wegen der unkontrollierten Drift nach Rechtsaußen und der gleichzeitig heranrückenden Gesamtbeobachtung durch den Verfassungsschutz erzwang die Entscheidung.
„Flügel“ steht nicht für die gesamte Ost-AfD
Die Annullierung der Mitgliedsrechte für Andreas Kalbitz im Mai – ein Husarenstück –, entmachtete blitzartig den Koordinator des „Flügel“-Netzwerkes, das weit über die AfD hinaus in einschlägig rechtsextreme Milieus reicht. Man muß in dem Zusammenhang aufhören, um den heißen Brei herumzureden und die Dinge endlich beim Namen nennen!
Die Folgen dieses Schlags waren in Kalkar offensichtlich: Der buchstäblich kopflose „Flügel“ war nicht mehr zur Offensive in der Lage, demgegenüber entschieden die gemäßigten Kräfte trotz knapper Mehrheiten alle Personalfragen für sich. Übrigens sollte man nicht den Fehler begehen, den „Flügel“ mit „dem Osten“ in der AfD gleichzusetzen! Eine immer größere Zahl von Funktionsträgern der Ost-Verbände sind genervt, für Extratouren und Provokationen des „Flügels“ in Haftung genommen zu werden.
Angesichts der knappen Mehrheitsverhältnisse alles auf eine Karte zu setzen, war von Meuthen verwegen, riß aber die Realpolitiker der Partei mit sich. Trotz erheblicher Unmutsbezeugungen ging ein regelrechter Ruck durch die Reihen. Nicolaus Fest brachte es in einer Wortmeldung auf den Punkt, als er den Kern der Rede benannte: „Mehr Selbstdisziplin als Selbstdarstellung.“ Meuthen sei jahrelang vorgeworfen worden, daß er nicht führe, jetzt tue er das endlich und dafür sei er auch gewählt worden.
Unmut über schwache Fraktionsführung
Mit Kalkar scheint es nach zahllosen Auseinandersetzungen der vergangenen Jahre eingerastet zu sein, daß die Dinge endlich geklärt werden müssen. Das Verstecken des Führungspersonals hinter einer angeblich alleinseligmachenden „Basisdemokratie“ kommt an sein Ende. Nicht zuletzt in der Bundestagsfraktion der AfD hat sich eine enorme Wut angestaut: auf der einen Seite über eine schwache Fraktionsführung, die nicht entscheidet, und auf der anderen über Querulanten, die sich in keine Disziplin fügen. Das Laufenlassen, die Nichtentscheidung als Prinzip, vor allem in Person des Fraktionsvorsitzenden Alexander Gauland, ist angesichts der konkreten Lage endgültig gescheitert.
Die AfD hat es mit einer doppelten Feinderkennung zu tun, die bis vor kurzem nicht ernst genug genommen worden war: Auf der einen Seite eine wütend um sich schlagende politische Klasse, die den Verfassungsschutz rechtswidrig zur Diskriminierung der stärksten Oppositionskraft mißbraucht. Auf der anderen Seite ein teils mit erheblicher destruktiver Energie operierendes Netzwerk hinter dem „Flügel“, das mit dem Verfassungsschutz das Interesse teilt, die realpolitische Mehrheitsströmung in der AfD systematisch zu schwächen – und deshalb die existentiell notwendige juristische Abwehr gegen die Innenministerien nach Kräften sabotiert.
Björn Höcke, verbliebener Frontmann des zerbröselnden Rechtsaußen-Flügels, hatte in Kalkar nicht den Mut, sich zu Wort zu melden. Am vergangenen Wochenende wollte Höcke bei einem Auftritt in NRW die große „Gegen-Rede“ zu Meuthen liefern. Er konnte sie in Höxter jedoch nur unter Aufsicht des NRW-Landesvorsitzenden Rüdiger Lucassen halten, stellte sich dennoch in aller Offenheit gegen die eingeleiteten und für die Partei existentiellen Abwehrmaßnahmen gegen den Verfassungsschutz. Ausdrücklich widersprach Höcke einem „Grundsatzbeschluß zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung“, den der Bundesvorstand am Vorabend des Parteitags in Kalkar verabschiedet hatte.
Höcke widersetzt sich Vorstandsbeschluß
Höcke verhöhnte diese einmütige Erklärung als „ängstliches Bekenntnis“. Er müsse angesichts dessen an ein Kaninchen denken, das „mit bummerndem Herzchen vor der Schlange“ sitze. Höcke hatte in der Vergangenheit schon wiederholt AfD-Politiker als „politische Bettnässer“ bezeichnet, die sich Sorgen über die Gefahr der Verfassungsschutz-Beobachtung machen.
Höcke, der stets verkündet, er wolle sich „demütig“ in den Dienst der Partei stellen und deren „Einheit“ bedeute ihm alles, widersetzt sich hier einem Vorstandsbeschluß, der wohlgemerkt einstimmig, in Gegenwart von Alexander Gauland (der bislang stets schützend seine Hand über Höcke gehalten hat) und mit den Stimmen der erklärten Meuthen-Opponenten Alice Weidel, Tino Chrupalla und Stephan Brandner gefaßt worden war.
In diesem Beschluß des Bundesvorstands wiederholt die AfD nicht nur ihr Bekenntnis zur grundgesetzlichen Ordnung, sondern erklärt auch ausdrücklich, daß „Äußerungen … oder andere Verhaltensweisen“ von Mitgliedern, die mit dieser Grundordnung unvereinbar sind, einen „erheblichen Verstoß“ gegen Grundsätze der Partei darstellen.
In der sechs Punkte umfassenden Erklärung wird zudem deutlich, daß der Bundesvorstand nun endlich gewillt ist, sich mit aller juristischen Härte und Konsequenz gegen den Verdacht der Verfassungsfeindlichkeit zu wehren – aber ebenso „mit den Mitteln des Parteiordnungsrechts“ gegen diejenigen vorzugehen, die sich trotz dieser Zielsetzung verfassungsfeindlich äußern oder hierfür Anhaltspunkte liefern.
Kampf gegen Unvereinbarkeitsliste
Höcke bezeichnete in Höxter diese Strategie der Partei gegen den Verfassungsschutz als „grundfalsch“. Statt sich „defensiv“ juristisch zu wehren, empfiehlt er eine „Offensiv-Strategie“. Dabei solle sich die AfD an einer Studie des Juristen Josef Schüßlburner orientieren.
Was seine Zuhörer nicht wissen: Schüßlburner hält es in seinem Papier nicht nur für sinnlos, sich überhaupt juristisch zu wehren, er greift vor allem frontal die entscheidende „Firewall“ der AfD gegen extremistische Unterwanderung an: die Unvereinbarkeitsliste, die bislang verhinderte, daß die AfD insbesondere von Ex-Mitgliedern der NPD und anderen rechtsextremen Organisationen geflutet werden konnte.
Das Schüßlburner-Papier erschien nicht zufällig beim Institut für Staatspolitik von Götz Kubitschek, einem engen Weggefährten und Vordenker Höckes. Kubitschek erklärte gerade, in der AfD seien jetzt „BRD-Gemüter“ am Werk, die nicht geschaffen seien „zur Revolte, zur brachialen Reform“.
Kein Wunder, daß ausgerechnet der jüngst aus der AfD ausgeschlossene Bundestagsabgeordnete Frank Pasemann, der bereits zu Vortragsveranstaltungen in die Fraktion eingeladen hatte, bei denen auch ehemalige NPD-Aktivisten anwesend waren, das Schüßlburner-Papier an alle Fraktions-Mitglieder verschicken ließ.
Eine Partei ist kein akademischer Debattierklub
Wegen dieser Unvereinbarkeitsliste, beklagt Schüßlburner, würden „derartige politische Begabungen“ wie Andreas Kalbitz ausgeschlossen und beraube sich die AfD „wichtiger Rekrutierungsreservoirs“ derjenigen, die parallel oder früher in diversen rechtsradikalen Organisationen tätig gewesen seien.
Schüßlburners sagenhafter Rat an die AfD ist, das Grundgesetz zu überwinden und zur Weimarer Reichsverfassung zurückzukehren. Und die AfD solle die Demokratie „gegen den sogenannten Verfassungsschutz und im Zweifel auch gegen Verfassungsgericht und Grundgesetz“ durchsetzen. Dies ist der Aufruf, sich schlicht gegen die staatliche Ordnung zu stellen!
Natürlich muß die Demokratie energisch gegen rechtswidrige Bewertungen des Verfassungsschutzes verteidigt werden. Dazu sind von der AfD auch die endlich koordinierter geführten Klagen notwendig. Auch eine politische Grundsatzkritik an der Praxis und Konzeption des Verfassungsschutzes ist mehr als berechtigt. Aber eine politische Partei ist kein akademischer Debattierklub. Sie muß Politik unter den realen Bedingungen einer politischen Ordnung machen, die von erfreulicher Stabilität ist. Für einen solchen politischen Ansatz ist jedoch jene „eiserne Disziplin“ notwendig, die Meuthen zu Recht in Kalkar gefordert hat.
In Niedersachsen setzte sich jetzt am Wochenende übrigens bei der Aufstellung der Landesliste zum Bundestag der „Realo-Rollback“ fort, Spitzenkandidat wurde überraschend Ex-Bundeswehrgeneral Joachim Wundrak. Eins ist klar: Die größte Gefahr für das „Establishment“ geht nicht von einer AfD aus, die sich freiwillig radikalisiert und damit politisch aus dem Rennen nimmt – sondern einer AfD, die in der Lage ist, tief in die bürgerliche Mitte vorzudringen.