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Nach der Präsidentschaftswahl: Frankreich sortiert sich neu

Nach der Präsidentschaftswahl: Frankreich sortiert sich neu

Nach der Präsidentschaftswahl: Frankreich sortiert sich neu

Marine Le Pen: Auflösung alter Muster Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Michel Euler
Marine Le Pen: Auflösung alter Muster Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Michel Euler
Marine Le Pen: Auflösung alter Muster Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Michel Euler
Nach der Präsidentschaftswahl
 

Frankreich sortiert sich neu

Marine Le Pen stand vor einer unlösbaren Aufgabe, die alten politischen Lager haben sich aufgelöst, und viele Franzosen wollten nur den anderen Kandidaten verhindern. Frankreich wird sich neu sortieren – die politische Rechte auch. Ein Kommentar von Karlheinz Weißmann.
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Die meisten Franzosen halten die Masseneinwanderung für ein Problem. Die meisten Franzosen fühlen sich durch terroristische Anschläge bedroht. Die meisten Franzosen fürchten, ihre kulturelle Identität zu verlieren. Die meisten Franzosen sehen in der Islamisierung eine Gefahr. Die meisten Franzosen verdächtigen ihre Politische Klasse, korrupt oder unfähig oder beides zu sein. Die meisten Franzosen stehen „Brüssel“ und „Berlin“ skeptisch gegenüber.

Die meisten Franzosen haben Emmanuel Macron gewählt oder seine Wahl akzeptiert, also den Mann erneut an die Spitze der Republik gesetzt, der in den vergangenen fünf Jahren so wenig gegen die Landnahme der Fremden unternommen hat wie seine Vorgänger, dem es nicht gelungen ist, die Innere Sicherheit zu stärken, der meint, daß es etwas wie das spezifisch Französische gar nicht gibt, der den Islam im Zweifel hofiert und ohne Frage für das Establishment steht, das heimische wie das europäische.

Kein Jubel bei den Etablierten

Im zweiten Durchgang der Präsidentschaftswahl konnte Macron mit 58,2 Prozent der abgegebenen Stimmen die Gegenkandidatin Marine Le Pen mit 41,45 Prozent schlagen. Dafür wird man einerseits den Amtsbonus verantwortlich machen und die reflexartige Neigung der Mitte, die „republikanische Front“ aufzufüllen, andererseits die bleibende Spaltung des rechten Lagers und das Scheitern aller Erwartungen, daß ein Teil der Linkspopulisten von Jean-Luc Mélenchon für eine „Querfront“ mit den Rechtspopulisten ansprechbar sei.

Trotzdem will bei den Etablierten kein Jubel aufkommen. Denn Macron hat seinen Triumph von 2017 nicht wiederholen können, und im Grunde rechnete niemand ernsthaft damit, daß es der „nationalen“ Kandidatin gelinge, die „gläserne Decke“ zu durchstoßen.

Unlösbare Aufgabe für Le Pen

Dafür kann man in gewissem Maß die Dämonisierung Marine Le Pens verantwortlich machen. Aber damit sollte die Ursachenforschung so wenig enden, wie mit der Feststellung persönlicher Unzulänglichkeiten der Spitzenfrau des Rassemblement National (RN). Denn die Aufgabe, vor die sich Marine Le Pen in den letzten Jahren gestellt sah, war im Grunde unlösbar: die Kerntruppe der „Lepenisten“ zusammenhalten und gleichzeitig die wachsende Zahl der Unzufriedenen gewinnen, die glaubenstreuen Katholiken ansprechen und den Laizismus akzeptieren, Kampfentschlossenheit zeigen und doch so moderat im Ton bleiben, daß es die Schreckhaften aushalten, die einfachen Leute und die Provinz gewinnen, ohne die Leistungsträger und die Städter zu verprellen.

Wenn im Hinblick auf den Wahlgang wieder davon gesprochen wird, daß „Elitenblock“ (Macron) gegen „Volksblock“ (Le Pen) stand, zeigt das, wie nahe sie diesem Ziel gekommen ist, aber auch, daß sie es verfehlt hat, wahrscheinlich: daß sie es verfehlen mußte.

Auflösung der politischen Lager

Denn erst jetzt lösen sich die politischen Lager der Fünften Republik endgültig auf, und es setzt ein Prozeß der Umgruppierung ein, der neue Optionen erlaubt. Angedeutet hatte das schon die Kandidatur Zemmours, der bis dahin immer für den Front National (FN) beziehungsweise den RN optiert hatte, aber nun als Unabhängiger seinen Hut in den Ring warf, in erstaunlichem Tempo eine Anhängerschaft mobilisieren konnte und eine Reihe von Unterstützern gewann, mit denen nicht unbedingt zu rechnen war.

Dazu gehörte etwa Marion Maréchal, die Nichte Marine Le Pens, einst jüngste Abgeordnete der Nationalversammlung des FN, die allerdings schon vor längerer Zeit auf Distanz zu ihrer Tante gegangen war und Sympathie für Zemmour signalisiert hatte. Beide eint die Überzeugung, daß die Fraktionierung der Rechten in die „Besiegten von 1944“ und die Pieds-noirs, Gaullisten und Anti-Gaullisten, Handwerker und Ladenbesitzer und Angestellte, die um ihre Existenz fürchten, hier, Gelbwesten da, überwunden werden müsse. Ein Ziel, das aber weder durch Kalkül noch durch Appelle allein erreichbar ist. Letztlich kann man nur auf zwei Faktoren setzen: einen Generationenwechsel, mit dem auch viele der alten Feindseligkeiten verschwinden werden, und das Auftreten einer überzeugenden und unverbrauchten Persönlichkeit.

40 Prozent wollten den anderen Kandidaten verhindern

Möglicherweise ist Marion Maréchal diese Persönlichkeit: eine auf den ersten Blick irritierende Mischung aus It-Girl und Vollblutpolitikerin, eine attraktive junge Frau, alles andere als eine häßliche Rechte, die für das Selfie mit dem grauhaarigen Mann – Herz Jesu auf der Brust, Rosenkranz um den Hals, der Zopf im Stil des 18. Jahrhunderts – genauso strahlend lächelt wie für die Aufnahmen der Pressefotographen, die ebenso fließend Italienisch wie Englisch spricht, klug in der Argumentation und in der Debatte moderat oder von überraschender Schärfe, in der Lage, ein Publikum zuerst um den kleinen Finger zu wickeln und dann zum Kochen zu bringen.

Ob das genügt oder ganz unerwartete Konstellationen den Ausschlag geben, werden die kommenden Jahre zeigen, wenn erkennbar wird, was es für die Legitimation der bestehenden Ordnung heißt, daß ein Viertel der Franzosen den Urnen ferngeblieben ist, eine unbekannte, aber nennenswerte Zahl ungültige Stimmzettel abgegeben hat und vierzig Prozent derjenigen, die Macron oder Marine Le Pen gewählt haben, es nur taten, um den Gegenkandidaten zu verhindern.

Marine Le Pen: Auflösung alter Muster Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Michel Euler
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