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DDR-Zwangsadoptionen: Vergessenes Unrecht

DDR-Zwangsadoptionen: Vergessenes Unrecht

DDR-Zwangsadoptionen: Vergessenes Unrecht

Kleinkinder einer Leipziger Kinderkrippe (1990) Foto: picture-alliance/ ZB | Waltraud Grubitzsch
DDR-Zwangsadoptionen
 

Vergessenes Unrecht

Ein Roman über DDR-Zwangsadoptionen geht der Geschichte dreier Frauen aus Rostock nach, deren Leben nach einer gescheiterten Flucht über die Ostsee untrennbar miteinander verbunden war.
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Es ist die Geschichte dreier Frauen aus Rostock, deren Leben durch eine Zwangsadoption zu DDR-Zeiten untrennbar miteinander verbunden war, auch wenn sie es zu Beginn der Handlung noch nicht wußten. Von der 1985 geborenen Autorin in die Romanhandlung eingeführt wird zunächst die 1961 in einem mecklenburgischen Pfarrhaus geborene Krankenschwester Eva Galinsky. Sie wurde zum Medizinstudium nicht zugelassen, weil ihr Vater dem SED-Staat kritisch gegenüberstand und zudem mit dem aus Ostpreußen stammenden Amtsbruder Oskar Brüsewitz (1929–1976) in Thüringen befreundet war, der sich dann öffentlich, am 22. August 1976 auf dem Marktplatz von Zeitz, verbrennen sollte.

Mit ihrem Freund Martin, einem Studenten der Elektrotechnik an der Universität Rostock, unternahm Eva, inzwischen schwanger geworden, im Spätsommer 1984, genauer: am 18. September, einen Fluchtversuch von Boltenhagen an der Küste Mecklenburgs über die Ostsee zu den dänischen Inseln. Ihr Ziel war dabei, die Route der Fähre von Lübeck-Travemünde nach Trelleborg/Schweden zu kreuzen, um an Bord genommen zu werden. Stattdessen kam ein Motorboot der DDR-Küstenwache, das offensichtlich auch in internationalen Gewässern operierte. Während Eva bewußtlos aus dem Wasser gezogen wurde, hatte ihr Freund vermutlich versucht wegzutauchen und war erschossen worden.

Eine Urne anonym auf dem Friedhof

Hier regen sich beim Leser erste Zweifel an den DDR-Kenntnissen der Autorin, über die sie nicht verfügt, weil sie vier Jahre vor dem Mauerfall geboren wurde. Und der Stab von Beratern hat ihr wahrscheinlich auch nicht mitgeteilt, daß sich die Mitarbeiter der Staatssicherheit in den Untersuchungshaftanstalten der DDR-Bezirkshauptstädte niemals mit Namen, sondern nur mit dem Dienstgrad („Genosse Major“) anredeten oder mit Nummern („3/5“).

Merkwürdig ist auch das Verhalten Evas, die sich nicht, obwohl sie Schüsse gehört hat, vorstellen kann, daß ihr Freund nicht mehr lebt, obwohl er beim Prozeß fehlt und auch mit keinem Wort erwähnt wird. Dreieinhalb Jahre lang hegt sie die Illusion, sie sähe ihn wieder, könnte ihn heiraten und eine glückliche Ehe mit ihm führen. Erst als sie 1988 entlassen wird und der gemeinsame Freund Friedemann ihr erzählt, Martins Urne läge anonym auf dem Friedhof, erwacht sie aus ihren Träumen. Unvorstellbar ist auch, daß Friedemann, mit dessen Auto sie zur Flucht nach Boltenhagen gefahren waren, nicht als „Fluchthelfer“ bestraft wurde. Aber auch an der Existenz von Martins Urne ist zu zweifeln: Die Rostocker „Volksmarine“ wird sich kaum die Mühe gemacht haben, den Leichnam aus dem Wasser zu fischen.

Eifrigst bemüht, den demokratischen Schein zu wahren

Er wird tot an der Küste der dänischen Insel Mön angetrieben worden sein, wo es auf dem Inselfriedhof ein Dutzend Gräber für die angeschwemmten Leichen ertrunkener DDR-Flüchtlinge gab. Der 1951 im Frauenzuchthaus Hoheneck geborene Schriftsteller Ulrich Schacht hat diese Gräber 1985 entdeckt und darüber geschrieben. Aber einige DDR-Flüchtlinge haben Dänemark auch erreicht und Bücher darüber veröffentlicht. Die Hallenser Biologiestudentin Carmen Rohrbach war mit ihrem Freund im Sommer 1974 kurz vor dem Ziel, nachdem sie 28 Stunden ununterbrochen geschwommen waren, sich dann auf eine Boje gezogen hatten und dort eingeschlafen waren. Dann kam ein Boot der Volksmarine und brachte sie zur Staatssicherheit.

Sie wurden zu mehreren Jahren politischer Haft verurteilt. Auch was den Prozeß am 20. Dezember vor dem Rostocker Bezirksgericht angeht, stimmen manche Einzelheiten nicht. Unvorstellbar ist, daß sie keine Anklageschrift bekommen und daß ihr Pflichtverteidiger, der im Gerichtssaal stumm neben ihr saß, nicht vor dem Prozeß mit ihr gesprochen hat. Denn die DDR-Rechtsvertreter waren vier Jahrzehnte lang eifrigst bemüht, den demokratischen Schein zu wahren, daß ein Angeklagter vor einem ordentlichen Gericht stünde mit Staatsanwalt, Rechtsanwalt und Richter. Nach der Verurteilung wohnt sie mit sieben kriminellen Frauen in einer Sammelzelle und meidet jeden Kontakt zu ihnen. Wie will sie das drei Jahre durchgehalten haben? Das widerspricht jeder Lebenserfahrung!

Nur ein Zufallsfund führt auf die richtige Spur

Das Kind, das Eva während des Strafvollzugs in Rostock am 23. März 1985 geboren hat, wurde ihr nach zwei Stunden weggenommen. Eine Mutter-Kind-Beziehung konnte sich hier kaum entwickeln. Das Kind Juliane Hoff, um das es hier geht, wird in den ersten drei Kapiteln dem Leser vorgestellt. Die „Jule“ genannte Frau ist jetzt 32 Jahre alt, arbeitet in Hamburg als Werbetexterin in einer Agentur und schläft gelegentlich mit ihrem Chef. Ihre Pflegemutter Anke Hoff, 1952 geboren, liegt 2017, dem Jahr der Romanhandlung, im Sterben, später wird ihre Urne auf dem Ohlsdorfer Friedhof beigesetzt.

Auf Drängen des Vermieters löst Jule rasch Ankes Wohnung auf und findet in einem Versteck die Rostocker Adoptionsurkunde vom 30. März 1985. Zunächst ist sie verwirrt und verstört, liegt tagelang betrunken in ihrer Hamburger Wohnung, bis sie sich, auf Anraten ihrer Flensburger Freundin Isa, auf die Suche nach ihrer verschollenen Mutter Eva macht. Die findet sie schließlich als Besitzerin einer kleinen Gärtnerei in der Nähe Rostocks, aber die Annäherung ist schwierig, ein Mutter-Tochter-Verhältnis entsteht nicht, es bleibt nur eine vage Hoffnung!

DDR-Zwangsadoptionen geraten in Vergessenheit

Es gibt ähnliche Fälle von Zwangsadoptionen, die wesentlich schlimmer verlaufen sind. Wenn Kinder mit zwei, drei Jahren ihren Müttern entrissen wurden, kannten sie zwei Jahrzehnte danach ihre richtigen Mütter nicht mehr und fragten ratlos, was denn diese fremde Frau von ihnen wolle. Bei der 1967 in Gera geboren Katrin Behr war das anders. Sie wurde am 7. Februar 1972, als sie vier Jahre alt war, ihrer Mutter weggenommen, die für fünf Jahre ins Gefängnis kam. Weihnachten 1973 kam Katrin in eine staatstreue Familie, die Pflegemutter war Russischlehrerin und Parteisekretärin an ihrer Schule. Erst 1991 fand sie ihre leibliche Mutter in der Nähe des thüringischen Greiz wieder. In ihrem Buch „Entrissen“ (2011) hat sie darüber berichtet.

Einige Textpassagen in diesem Roman sind vorzüglich geschrieben, etwa das Kapitel „Blaugrau“ über die versuchte Flucht oder das Kapitel „Die geraubten Kinder“ über den Besuch nach dem Mauerfall im Jugendamt Rostock oder die beiden Kapitel „Überraschung“ und „Häuser statt Menschen“ über das Auffinden ihres Pflegevaters Georg in der Nähe der Landeshauptstadt Schwerin. Er hatte sich 1990 von Anke scheiden lassen und war verschwunden, nun lebt er im Wohlstand und bezeichnet die Zwangsadoption von 1985 als „legal“.

Der Roman ist durchaus spannend erzählt, die drei Textstränge sind überzeugend miteinander verknüpft, vor allem aber wird ein Thema aufgegriffen, das zunehmend in Vergessenheit gerät. Zudem ist die Aufarbeitung heute aufgrund mangelnder Aktenlage meist schwierig bis unmöglich.

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Lisa Quentin: Ein völlig anderes Leben. Roman, Goldmann-Verlag, München 2022, gebunden, 320 Seiten, 20 Euro

JF 28/22

Kleinkinder einer Leipziger Kinderkrippe (1990) Foto: picture-alliance/ ZB | Waltraud Grubitzsch
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