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Occupy Wall Street: Die Kluft wird tiefer

Occupy Wall Street: Die Kluft wird tiefer

Occupy Wall Street: Die Kluft wird tiefer

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Occupy Wall Street
 

Die Kluft wird tiefer

Sind die Demonstrationen und Zeltlager in den Bankenvierteln der USA und Europas tatsächlich Vorboten einer neuen Sozialbewegung? Oder variieren sie lediglich den Kitsch des Großen Marsches in eine „bessere Welt“? Noch läßt sich über die „Occupy Wall Street“-Bewegung nichts Verbindliches sagen. Damit die Protestierer sich nicht im Ungefähren verlieren, müßten sie ein paar griffige Forderungen aufstellen.
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Demonstranten in New York: Noch zu unscharf, beliebig die Positionen der Protestbewegung Foto: Flickr/David Shankbone

Sind die Demonstrationen und Zeltlager in den Bankenvierteln der USA und Europas tatsächlich Vorboten einer neuen sozialen Bewegung, sogar einer Revolutionierung der westlichen Gesellschaften? Oder variieren sie lediglich den Kitsch des Großen Marsches in eine „bessere Welt“, über den Milan Kundera in seinem Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit“ so feinsinnig spottete, weil er im Ergebnis nichts anderes darstellt als das Einverständnis mit den herrschenden Verhältnissen?

Für die erste Möglichkeit sprechen die Angst, die inzwischen auch die Mittelschichten wegen ihres drohenden Abstiegs ergriffen hat, und die allgemeine Wut über die Arroganz, mit der eine Finanzoligarchie ihre unverdienten Boni einstreicht. Die zweite Möglichkeit deutet sich durch die Protestforscher, Soziologen, Politiker und Journalisten an, die sich der Bewegung bemächtigen und ihren aufklärerisch-emanzipatorischen und übernational-universalistischen Anspruch hervorheben.

Zu unscharf, beliebig die Positionen der Protestbewegung

Tatsächlich läßt sich über die „Occupy Wall Street“-Bewegung (Besetzt die Wallstreet), deren Ausgangspunkt in den USA liegt, noch kaum Verbindliches sagen. Zu unscharf, beliebig und veränderlich sind die Positionen, falls überhaupt welche geäußert werden, zu undeutlich ist die Struktur. Vor allem kann der internationale Charakter der Proteste nicht über die unterschiedlichen Motive und Ausgangspunkte hinwegtäuschen.

In den Vereinigten Staaten sind die sozialen Differenzen und Konflikte ungleich schärfer als in den europäischen Ländern. Der Einfluß der Hochfinanz auf die Politik wirkt sich hier unvermittelt aus. Präsidenten- und Senatorenwahlen werden durch die Höhe der Spenden vorentschieden, die zum großen Teil von den Banken kommen. Der zum Hoffnungsträger stilisierte Obama macht da keine Ausnahme, seine Hilflosigkeit in der Frage der Bankenregulierung bildet die Kehrseite davon. Die Forderung der Demonstranten nach einer Kommission, die den Zugriff der in der Wall Street konzentrierten Finanzindustrie auf die Politik untersuchen soll, ist daher naheliegend.

Anders verhält es sich mit den Protesten in Südeuropa. Hier handelt es sich um Länder, die den Euro dazu genutzt haben, ihren Schlendrian orgiastisch auszuleben. Er verschaffte ihnen billige Kredite, die ihnen einen Lebensstandard gestatteten, der die Wirtschaftskraft in unverschämter Weise überstieg. Die nun präsentierte Rechnung löst Panik und Aggressionen aus.

In Deutschland wurde ein jahrzehntelanger Konsens aufgekündigt

Deutschland ist ein Sonderfall. Hier hat die politische Elite einen jahrzehntelangen Konsens aufgekündigt: Was immer sie früher auch anstellen mochte, sie sorgte doch dafür, daß der Michel ruhig schaffen, schlafen und seines sauer verdienten Geldes sicher sein durfte. Durch die Einführung der Einheitswährung aber hat sie den deutschen Wohlstand von der Schuldenmisere der anderen Länder abhängig gemacht.

Allgemeine Losungen über „soziale Gerechtigkeit“, „globale Transformation“ und „europäische Solidarität“, wie sie leider auch im Umfeld der Proteste zu hören sind, helfen da nicht weiter. Sie führen in die politische Unverbindlichkeit und ins Einverständnis mit der real-existierenden Euro-Ordnung. Die präventiven Umarmungen durch Politik und Medien haben eben diesen Zweck.

Ein mahnendes Beispiel geben die sogenannten Nichtregierungsorganisationen (NGOs) ab, die in ihrem öffentlichen Selbstverständnis quer zur Politik der Staaten und Regierungen liegen, in Wahrheit jedoch längst von ihr absorbiert sind. Der frühere Attac-Koordinator Sven Giegold sitzt heute mit gutem Salär für die Grünen im Europa-Parlament. Einst Basisdemokrat, erregt er sich heute über die Slowaken, die begreiflicherweise keine Lust hatten, für die manipulierten Haushalte anderer Länder aufzukommen. Er forderte kurzum ihre Entmündigung:

„Wir brauchen letztlich die wichtigen europäischen Institutionen unter direkter Verantwortung der europäischen normalen Entscheidungsregeln. Das heißt, das Europäische Parlament plus der Rat der Mitgliedsländer muß entscheiden und nicht eine Kakophonie nationaler Parlamente und Regierungen. Das ist das zentrale Problem an der Stelle.“ Die deutsche Occupy-Bewegung steht gleichfalls in der Gefahr, in die Europa-Falle zu laufen.

Absetzbewegung zeigt Verunsicherung der politischen Klasse

Zunächst aber ist ihr Auftauchen – wie auch das der medial hofierten Piratenpartei – ein Hinweis darauf, daß zwischen den politischen und sozialen Realitäten und der Fähigkeit der vorhandenen Institutionen, sie aufzunehmen und ihnen gerecht zu werden, eine unüberbrückbare Kluft besteht. Das institutionelle Gefüge der Bundesrepublik kann in bisheriger Form den Lebensinteressen des Staatsvolkes nicht mehr gerecht werden und braucht einen gründlichen Umbau.

Die Geschwindigkeit, mit der die Politik – allen voran Bundeskanzlerin Merkel – für die Proteste Verständnis äußert und sich gleichzeitig von den Banken absetzt, läßt natürlich auf Opportunismus, vor allem aber auf eine tiefe Verunsicherung innerhalb der politischen Klasse schließen. Der scheinbar private Fernsehauftritt des CDU-Bundestagsabgeordneten Andreas Schockenhoff, der vergangenen Sonntag bei Günther Jauch seine Alkoholkrankheit beichtete, war in diesem Sinne eine hochpolitische Angelegenheit.

Mit der neoliberalen Deregulierung hat die Politik den Banken ja erst jenes Verhalten ermöglicht, das sie ihnen nun vorwirft. Zweitens war der Euro so angelegt worden, daß die Banken tatsächlich eine transnationale Haftungsgemeinschaft annehmen durften, selbst wenn die Verträge anderes besagten, und somit zur Kreditvergabe geradezu herausgefordert wurden. Doch auch die Bürger können sich nicht freisprechen von ihrer Verantwortung. Haben sie nicht regelmäßig diejenigen Politiker mit ihrer Stimme belohnt, die die meisten Wohltaten versprachen ohne Rücksicht auf die Staatsverschuldung?

Damit die Protestierer sich nicht im Ungefähren verlieren und verschleißen, müßten sie ein paar griffige Mindestforderungen aufstellen: Ein klares Nein zum permanenten Rettungsschirm und zu billionenschweren Kredithebeln. Erhalt und Stärkung der Budgethoheit des Bundestages. Eine Volksabstimmung über das Ob und Wie des Euro. Eine Wahrheitskommission, die das Zustandekommen der Maastricht-Verträge sowie der Deregulierungsgesetze untersucht. Alles andere ist politische Romantik.

JF 43/11

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