Robert Habeck hat gesagt: „Es gibt kein Volk.“ Diese – vorsichtig gesagt – bizarre Meinung wird jetzt, so scheint es, vom Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) zur verbindlichen Staatsdoktrin erklärt. In seiner Pressemitteilung vom 26. April teilte der Inlandsnachrichtendienst mit, daß er die Jugendorganisation der AfD, die Junge Alternative (JA), das Institut für Staatspolitik (IfS) und den Verein „Ein Prozent“ als „gesichert rechtsextremistisch“ eingestuft habe.
Die Begründung lautet im Kern: „Die propagierte Vorstellung, daß es ein deutsches Volk jenseits des im Grundgesetz als der Gesamtheit der deutschen Staatsangehörigen definierten Staatsvolkes gebe“, sei verfassungsfeindlich. Denn sie impliziere „eine Herabsetzung von eingebürgerten Staatsangehörigen zu Deutschen zweiter Klasse“.
Die Auffassung des BfV ist nicht ganz neu. Denn das Amt vertritt schon seit längerem die Ansicht, die Verwendung eines ethnisch-kulturellen Volksbegriffs durch politische Organisationen sei mit dem Grundgesetz unvereinbar. Dies wird jetzt auf die Spitze getrieben, indem schon die öffentliche Äußerung der Vorstellung, es gebe ein nicht durch die Staatsangehörigkeit, sondern durch Kriterien wie Sprache, Geschichte und Abstammung definiertes Volk, für verfassungsfeindlich erklärt wird.
Der Verfassungsschutz als Sprachpolizei
Die Existenz von Völkern im ethnisch-kulturellen Sinne ist eine Tatsache, die zu leugnen bis vor kurzem niemandem in den Sinn gekommen wäre. Nun scheint das BfV sich als Sprachpolizei etablieren zu wollen, die sich anschickt, Robert Habecks Satz mit den Mitteln des Verfassungsschutzes durchzusetzen. Auf das Grundgesetz kann der Verfassungsschutz sich dafür jedoch nicht berufen.
Richtig ist: Das Volk als Subjekt der Demokratie ist das Staatsvolk, nicht das Volk im ethnischen Sinne. Wer die deutsche Staatsangehörigkeit hat, gehört dem deutschen Staatsvolk an und hat alle staatsbürgerlichen Rechte – ungeachtet seiner ethnischen Zugehörigkeit. Aber das schließt nicht aus, daß es ein deutsches Volk im ethnischen Sinne gibt. Demos und Ethnos sind unterschiedliche Kategorien; die Zugehörigkeit bestimmt sich nach unterschiedlichen Kriterien. Wer eine Aussage darüber macht, wer zum deutschen Volk im ethnischen Sinne gehört, sagt nichts darüber aus, wer zum Staatsvolk gehört. Er schließt damit niemanden von der Zugehörigkeit zum Staatsvolk aus.
Die ethnisch-kulturelle Gruppenzugehörigkeit ist nicht nur ein soziologisches Faktum. Sie wird von der Rechtsordnung auch als wertvoll anerkannt, vor allem im Minderheitenschutzrecht. Die Dänen in Südschleswig, die in Schleswig-Holstein den Status einer nationalen Minderheit haben, fühlen sich als Dänen, obwohl sie deutsche Staatsangehörige sind. Auch die Sorben oder die Friesen haben eine eigene ethnisch-kulturelle Identität.
Schutz für Minderheiten
Autochthone ethnische Minderheiten in Deutschland, die besonderen staatlichen Schutzes bedürfen und denen dieser in Landesverfassungen garantiert wird, kann es nur geben, wenn es auch ein ethnisch-kulturelles Mehrheitsvolk gibt. In der Verfassung Sachsens heißt es in Artikel 5: „Dem Volk des Freistaates Sachsen gehören Bürger deutscher, sorbischer und anderer Volkszugehörigkeit an.“
Damit macht die Verfassung genau die Unterscheidung zwischen Staatsvolk und Volk im ethnisch-kulturellen Sinne, die das BfV jetzt für rechtsextremistisch erklärt. Und das Grundgesetz bringt in Artikel 116 zum Ausdruck, daß der deutsche Nationalstaat typischerweise – wenn auch keineswegs ausschließlich – aus deutschen „Volkszugehörigen“ besteht. Nur so ist verständlich, daß diese, wenn sie in einem anderen Land gelebt haben und zum Beispiel als Rußlanddeutsche nach Deutschland kommen, hinsichtlich der Zugehörigkeit zum Staatsvolk im Vergleich zu anderen Flüchtlingen oder Vertriebenen privilegiert sind.
Mit dem Grundgesetz vereinbar ist es auch, sich für die Erhaltung des – ethnisch-kulturell verstandenen – Volkes einzusetzen. Es ist ein legitimes Ziel, die ethnisch-kulturelle Identität gegen ihre Auflösung durch Einwanderung aus anderen Kulturen zu schützen. Das wird – wenn es um andere Völker geht – auch von Bundesregierung und Bundestag anerkannt. So hat der Bundestag in einer Resolution die Massenansiedlung von Chinesen in Tibet als Zerstörung der tibetischen Identität und Kultur kritisiert.
Gibt es ein deutsches Volk?
Verfassungsschutzrelevant wäre diese Zielsetzung nur dann, wenn das Ziel mit verfassungsfeindlichen Mitteln – etwa durch Ausbürgerung und Ausweisung von Staatsangehörigen mit Migrationshintergrund – verfolgt würde. Verfassungsfeindlich wäre es auch, das Volk im ethnischen Sinne mit dem Staatsvolk gleichzusetzen oder auf andere Weise ethnisch nichtdeutsche Staatsangehörige zu diskriminieren. Indem aber der Verfassungsschutz eine menschenwürdewidrige Diskriminierungsabsicht allein daraus ableitet, daß jemand die Auffassung vertritt, es gebe ein deutsches Volk im ethnisch-kulturellen Sinne, tabuisiert er die Existenz des soziologisch-ethnologisch beschriebenen deutschen Volkes.
Mit einer Einwanderungspolitik der unbeschränkt offenen Grenzen paßt das zusammen – mit dem Grundgesetz nicht. Der Verfassungsschutz macht sich durch seine Argumentation zum Instrument der Regierung. Er verteidigt mit jener Begründung die momentane Einwanderungspolitik und dient der Ausschaltung einer dagegen gerichteten Opposition.
Wenn das BfV die Feststellung einer selbstverständlichen Tatsache – die Behauptung der Existenz eines nicht durch die Staatsangehörigkeit definierten Volkes, der Existenz des Volkes als soziologische im Unterschied zur staatsrechtlichen Kategorie – mit dem Verdikt des Rechtsextremismus sanktioniert, sind wir in einer Orwellschen Dystopie gelandet. Statt die Verfassung zu schützen, beschädigt das BfV damit die Demokratie.
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Prof. Dr. Dietrich Murswiek ist emeritierter Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Er ist Autor des 2020 erschienenen Buches „Verfassungsschutz und Demokratie“.