Seit der Bundestagswahl brechen alle Dämme. Keinen „Welpenschutz“ mehr für die „Ostdeutschen“ in ihren „radikalen Reservaten“, tönt es in den Medien. Denn die haben sich erdreistet, die AfD in ihren Bundesländern zur zweit- und in Sachsen sogar zur stärksten Partei zu machen. Lange genug hat der Westen den sorgenden Arzt gespielt. Doch wenn der Osten seine gute Medizin ausspuckt und partout nicht am Westniveau genesen will, dann muß man ihm die Zwangsjacke anlegen. Flugs verwandeln die drollige „Zonengabi“ und der bemitleidenswerte „Jammerossi“ sich in den „Dunkeldeutschen“ und das „Pack“.
Der Stern nennt die ostelbischen Wähler, weil sie Massenansiedlungen aus der Dritten Welt bei sich ablehnen, „die Unsolidarischen“ und psychologisiert: „Wer 57 Jahre in den Männergesellschaften der Nazis und Realsozialisten mit dieser Logik infiltriert wurde, kann sie nicht einfach abstreifen wie einen alten Mantel. Er gibt sie sogar weiter an die nächste Generation. Daran knüpft die AfD an.“ Im Spiegel läßt Altbarde Wolf Biermann, der im November 1976 von der SED-Führung ausgebürgert worden war, seinem Groll freien Lauf. Für ihn sind die AfD-Wähler „die stummen Untertanen von damals“, die ihren „Verunsicherungen“ und „Ängsten“, ihrem „Neid“ und den „Haßgefühlen“ freien Lauf lassen. Außerdem würden sie die „blühenden Landschaften“, die der Westen ihnen finanziert hat, als „Kränkung“ empfinden.
Biermann bestreitet also den Menschen, seit 1989 eigene Erfahrungen gesammelt, Vergleiche angestellt und Schlußfolgerungen gezogen zu haben. Eine Vermutung: Er grollt ihnen, weil sie ihm 1989/90 eine Erfahrung bescherten, die dem Exilierten oder Ausgesperrten bei seiner Rückkehr nur ausnahmsweise erspart bleibt: Er war zu einem historischen Relikt geworden, als Dolmetscher unterdrückter Gedanken und Gefühle wurde er nicht mehr benötigt.
Politisch korrekte Zwänge rufen nach Entlastung
Im Tweet eines Spiegel-Redakteurs verbindet der ästhetische sich mit dem politischen Degout; „Ich höre heute mehrfach, ich solle die Ostdeutschen ‘endlich ernst nehmen’. Entschuldigung, ihr kamt 1990 mit nem Trabbi angeknattert und wählt heute mehrheitlich AfD – wie, bitteschön, soll ich euch da ernst nehmen?“ So kaltschnäuzig wurde schon lange nicht mehr aus dem Konsumniveau eine gesellschaftliche Wertigkeit abgeleitet.
Die aus der DDR stammende Welt-Redakteurin Kathrin Spoerr ist eine der wenigen Stimmen, die sich dem Medienchor entgegenstellen. „Der Ostdeutsche steht am Pranger der Westdeutschen“, schreibt sie und schildert eine generelle Erfahrung: „Was immer Menschen, nüchtern oder besoffen, einfallen mag, um sich zu erheitern: Polenwitze, Türkenwitze, Russenwitze – es gehört sich nicht. (…) Die einzige Menschengruppe, für die diese Zurückhaltung nicht galt, waren und sind die Ostdeutschen. (…) Es war schon in den 90er Jahren in gebildeten westdeutschen Milieus, in denen der Gebrauch des Wortes ‘Neger’ oder ‘Zigeuner’ zum sofortigen Ausschluß geführt hätte, völlig normal, sich über ‘Ossis’ zu amüsieren.“
Die Zwänge der politischen Korrektheit, denen der aufgeklärte, linksliberale, rote und grüne Altbundesbürger sich unterwirft, rufen nun mal nach Entlastung. Er verschafft sie sich auf Kosten derer, denen er 1990 zähneknirschend Zutritt und die formale Gleichstellung zubilligen mußte. Da diese sich numerisch, sozial, politisch, gesellschaftlich und diskursiv in schwacher Position befinden, ist das Verfahren risikolos und ergibt zudem den Mehrwert süßer Rache.
Die Bundesrepublik war eine sozial befriedete Zone
Nun lassen sich manche Irritationen nachvollziehen. Die Plötzlichkeit, mit der 1989/90 das hohe Pathos der DDR-Revolution in ein naives Gottvertrauen auf Helmut Kohl und den Kapitalismus umschlug, bedeutete auch für gutwillige Westdeutsche eine Enttäuschung. Die war freilich doppelbödig. Die schroffe Ablehnung der DDR-Bürger, das sozialistische Experiment noch einmal von vorn zu beginnen, und ihr Verlangen nach rascher Wiedervereinigung nahm der Westlinken die Hoffnung auf eine gesellschaftliche Perspektive jenseits des Kapitalismus.
Und vor allem war die Bundesrepublik eine beschauliche, von alliierten Vorbehaltsrechten eingehegte und sozial befriedete Zone gewesen, in der es bereits als hochpolitisch galt, sein Puppenstübchen postnational, ökologisch und pazifistisch zu möblieren. Mit dem Mauerfall und der Wiedervereinigung erfolgte der „Rückruf in die Geschichte“ (Karlheinz Weißmann) und damit der Sturz aus dem stillen Winkel. Den nimmt man den „Ossis“ bis heute insgeheim übel.
Mit dem relativen Erfolg der AfD, der sich nicht nur, aber vor allem auf die Wahlergebnisse im Osten stützt, eröffnet sich die Aussicht, daß die Umbrüche von 1989 eine neue Deutung erfahren und eine neue Wirkung entfalten. Die alte Interpretation war 1990, in den Monaten zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung, von Jürgen Habermas formuliert worden: Der Sturz der kommunistischen Regimes in Osteuropa war danach lediglich eine „nachholende Revolution“, die „kein neues Licht auf unsere alten Probleme“ warf. Es handele sich um „ein Ausgreifen der Moderne (…). Der Geist des Okzidents holt den Osten ein, nicht nur mit der technischen Zivilisation, sondern auch mit seiner demokratischen Tradition.“
Der letzte Bundestag ähnelte den DDR-Blockparteien
Den hinzukommenden DDR-Bürgern wies Habermas die Aufgabe zu, sich einzubringen in die „radikalreformistische Selbstkritik einer kapitalistischen Gesellschaft, die in den Formen einer rechts- und sozialstaatlichen Massendemokratie gleichzeitig mit ihren Schwächen auch ihre Stärken entfaltet hat“. Mit anderen Worten: Vorwärts auf dem bewährten Weg nach Westen!
Die Frage, ob man im wiedervereinten Deutschland „angekommen“ sei, richtete sich ausschließlich an die Ex-DDR-Bürger, die sich so gut es ging anpaßten. Eine Differenz blieb allerdings bestehen, die sich aus der Unsicherheit im Gebrauch der sozialen Techniken einerseits, aus dem Privileg des Systemvergleichs und dem Erfahrungsvorsprung eines gescheiterten Staates andererseits ergab. Nach Jahren der Verwirrung wird das „Ausgreifen der (westlichen) Moderne“ als die schleichende Angleichung politischer und kommunikativer Strukturen der Bundesrepublik an DDR-Verhältnisse erkannt. Dieses Gefühl gibt es natürlich auch im Westen, doch in der Ex-DDR ist es naturgemäß stärker und inzwischen flächendeckend.
So bestand der letzte Bundestag aus fünf Parteien, die in ihrer Einmütigkeit in den wichtigsten Zukunftsfragen den DDR-Blockparteien ähnelten. Die politische Phraseologie entspricht dem Orwellschen Doppelsprech und zeugt gleichzeitig – „bunt statt braun“, „Vielfalt statt Einfalt“, „Bereicherung“, „Willkommenskultur“ – von einer fortschreitenden Infantilisierung, die das Niveau der Marxismus-Lehrstunden in der DDR längst unterschritten hat. Die Medien, die im Tonfall der moralischen Erpressung Solidarität mit ganz Afrika und Arabien fordern, erinnern an die Sprechchöre aus den DDR-Massenversammlungen: „Hoch die internationale Solidarität!“
Moloch Europäische Union
Und die EU ist mittlerweile ein Moloch geworden, so bedrohlich, autoritär und unerreichbar wie früher der Warschauer Pakt. Im Willkommenswahnsinn 2015 mit jubelnden Springteufeln auf westdeutschen Bahnhöfen schließlich offenbarte sich ein wahnhafter Verblendungszusammenhang. Die „rechts- und sozialstaatliche Massendemokratie“ ließ Züge eines im Scheitern begriffenen Systems erkennen, vor dessen Zuckungen man sich schützen muß.
Der sächsische Ministerpräsident Stanislaw Tillich, ein Opportunist vor dem Herrn, der im Februar 2016 Bürgerproteste gegen die Zuweisung von Asylanten kommentiert hatte: „Das sind keine Menschen, die so was tun. Das sind Verbrecher“, findet unter dem Eindruck des AfD-Wahlerfolgs klare Worte: „Die Leute wollen, daß Deutschland Deutschland bleibt. Sie wollen keine Parallelgesellschaften und keinen Anstieg der Kriminalität. Sie wollen nicht, daß religiöse oder politische Auseinandersetzungen unter Flüchtlingen hier ausgetragen werden.“ Die „radikalreformistische Selbstkritik“, die seit 1990 vorgetragen wurde, ist dagegen ein Angriff auf den gesunden Menschenverstand und ein politisch-ideologisches Sprachgefängnis, das aufgebrochen werden muß.
Die narzißtische Kränkung entlädt sich im Haß
Eine neue Bewertung der mittel- und osteuropäischen Revolution von 1989 drängt sich damit auf. Das Attribut „nachholend“ ist als Beschreibung unzureichend. Aus der zeitlichen Distanz und mit der Perspektive auf ganz Europa und Deutschland ist sie auch eine konservative Revolution, weil sie dem Westen die Chance einer „Notbremsung“ (Walter Benjamin) bietet, die den Zug ins Blaue aufhält. Auch der Westen muß sich aus ideologischen Verirrungen befreien.
Für die politischen, akademischen, medialen Funktionseliten, für die Schwarmintelligenzler und befristeten Zuarbeiter – von denen viele heimlich am Selbstzweifel würgen – liegt darin die Gefahr des Status- und Jobverlusts und eine tiefe narzißtische Kränkung. Diese entlädt sich im Haß und der Pathologisierung des ungehobelten Dunkeldeutschen aus dem Osten.
JF 41/17