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Meinung: Mörderischer Verfall

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Meinung
 

Mörderischer Verfall

Ob der Massenmörder von Oslo im klinischen Sinne verrückt ist, sollen die Ärzte klären. Sozial gestört ist er in jedem Fall. Andernfalls hätte er nicht kalkuliert, daß die Öffentlichkeit bereit wäre, nach seiner Bluttat noch irgendwelche Botschaften von ihm entgegenzunehmen.
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Gebäude im Regierungsviertel von Oslo nach dem Bombenanschlag Foto: Flickr/nrkbeta

Ob der Massenmörder von Oslo im klinischen Sinne verrückt ist, sollen die Ärzte klären. Sozial gestört ist er in jedem Fall. Andernfalls hätte er nicht kalkuliert, daß die Öffentlichkeit bereit wäre, nach seiner Bluttat noch irgendwelche Botschaften von ihm entgegenzunehmen.

Ein Mann, der fast 80 Menschen, die meisten davon halbe Kinder und ganz junge Erwachsene, eiskalt tötet, ist ein verächtliches Subjekt, das verdientermaßen ohne Resonanz bleibt. Eine Erfahrung, die bereits die RAF-Terroristen machen mußten. Wohl lösten ihre Morde im linksintellektuellen Milieu „klammheimliche Freude“ aus (wovon heute auf der Rechten keine Rede sein kann), außerhalb davon aber stießen sie auf Zorn und Verachtung.

Die Zahl psychisch abnormer Attentäter in den USA und in Europa steigt. Im allgemeinsten Sinne handelt es sich um ein Geschwür, das aus einer erkrankten westlichen Zivilisation hervorbricht. Der 1964 geborene amerikanische Starautor Bret Easton Ellis, dessen Romanfiguren mit ihrem Autor älter werden, hat die Trümmerexistenzen beschrieben, die aus zerbrochenen Familien hervorgehen, die ohne materielle Sorgen, aber auch ohne Ziele und Ideale dahindämmern und sich mit Drogen, Alkohol und Sex abfüllen, bis auch das keinen Reiz mehr verspricht.

Innere Schwäche westlicher Gesellschaften

In „American Psycho“ wird ein Banker, ein junger Held unserer Zeit, zum Killer, der im absoluten Macht- überhaupt noch ein Selbstgefühl verspüren will. In dem parodistisch angelegten „Glamorama“ schließlich plazieren Models – die Personifizierungen der veräußerlichten, entleerten Existenz – Plastiksprengstoff in Louis-Vuitton-Taschen auf belebten Plätzen.

Die düsteren Kriminalromane der schwedischen Autoren Maj Sjöwall und Per Wahlöö indes geben ein Bild davon, wie soziale Erosion und Vereinsamung in der skandinavischen Wohlstandsgesellschaft der 1960er und 1970er Jahre einen Nährboden für Psychopathen und Heckenschützen bilden. Das Internet bietet keine Alternative, wenn der emotionale Wärmestrom, der im direkten Kontakt von Mensch zu Mensch ausgeht und ein Korrektiv bildet, dauerhaft fehlt.

Die innere Schwäche westlicher Gesellschaften wird von den Muslimen, deren Herrschaft der Norwegen-Attentäter so sehr fürchtet, klar verstanden. So begehrlich sie auf den westlichen Wohlstand schauen, so sehr lehnen sie es ab, sich in seine Kollateralschäden hinein zu integrieren, und je größer ihre Zahl wird, um so weniger haben sie das auch nötig.

Angebliche Bereicherung der multikulturellen Gesellschaft

Im Gegenteil, sie beginnen ihrerseits die Aufnahmeländer zu verändern und sich gegen die Expansion des Westens in ihre Herkunftsländer zu wehren. Die Terroristen vom 11. September waren gut integriert, gebildet und wußten die westliche Lebensweise zu genießen, ehe sie sich angeekelt von ihr abwandten.

Die westliche Linke, seit jeher für Weltverbesserungsutopien empfänglich, hat sich entschlossen, die riskante Transformation zu einer multikulturellen Gesellschaft als Bereicherung zu genießen und ihre Sinnkrise darin zu ertränken. Andere empfinden diese Politik als Verschärfung der Misere und als Beschleunigung einer irritierenden Entfremdung.

Sie fühlen sich von ihren Funktionseliten verraten. Neben den zwischenmenschlichen zerfallen in der Tat auch die öffentlichen Strukturen, das Bildungs-, Sozial- und sogar das Rechtssystem und verwahrlost der öffentliche Raum, ohne daß diese Entwicklung auf nennenswerten Widerstand stößt.

„Tyrannei der Mehrheit“

Zu den Theoretikern dieses Verfalls zählt Herbert Marcuse, der 1965 in einem vielzitierten Aufsatz forderte, die „repressive Toleranz“ des bürgerlichen Staates, die dem Bösen gilt, in eine „befreiende Toleranz“ umzuwandeln, die zu formulieren in der Hand einer linken Erkenntniselite liegt. „Befreiende Toleranz“, heißt es ganz offen, richte sich gegen die „Tyrannei der Mehrheit“, sie sei „radikale Kritik“ und „intellektueller Umsturz“ in jeder Beziehung.

Sie müsse „Intoleranz gegenüber Bewegungen von rechts bedeuten und Duldung von Bewegungen von links“. Den Rechten müsse die Toleranz bereits „auf der Stufe der Kommunikation in Wort, Druck und Bild entzogen“ werden, noch ehe sie überhaupt praktisch aktiv werden können. Ergänzt man „links“ um die Begriffe: multikulturell, proislamisch, EU- und umverteilungssüchtig, „rechts“ durch national und islamkritisch, dann findet man die politische Gegenwart treffend beschrieben. 

Marcuse argumentierte aus der Perspektive einer Linken, die erst vor den Toren des bürgerlichen Staates stand, den sie inzwischen erobert hat. Es kommt heute gar nicht auf die numerische Stärke der Meinungslager an, sondern auf den Besitz strategischer Positionen, von denen aus zielgerichtetes Handeln möglich ist, mit dem die Gegenseite atomisiert und politisch handlungsunfähig gehalten werden kann. Was kann ein Internetforum gegen die ARD-„Tagesschau“ ausrichten? Selbst der Bucherfolg von Thilo Sarrazin hat keinen politischen Terraingewinn ergeben.

Ausgrenzung und Verfolgungsdruck verdichtet sich zur Gewalterfahrung

Aus dem Gefühl anhaltender Machtlosigkeit folgt Frustration. Die ungefragte Veränderung der Lebenswelt, die Arroganz der Eliten, die Drohung mit Ausgrenzung, Beobachtungs- und Verfolgungsdruck verdichtet sich zur Gewalterfahrung. Potentielle Fanatiker führt das in einen politischen und moralischen Nihilismus, aus dem heraus sie ihre eigene Vorstellung von Recht und Unrecht entwickeln.

Ein dialektischer Vorgang, der alles andere als originell ist und sofort einen dialektischen Überschlag erlebte: „Blond, blauäugig, skrupellos“, titelte Spiegel Online und beantwortete den Nihilismus des Norwegen-Mörders mit der nihilistischen Lust auf die Selbstauslöschung Europas.

Im übrigen: Falls demnächst – was Gott verhüten möge – ein linkes Terrorkommando die Führungsetage von Goldman Sachs oder der Deutschen Bank attackiert, wäre die Banken- und Kapitalismuskritik deswegen nicht automatisch falsch.

JF 31-32/11

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