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Neues Gremium: Bürgerrat: Über Rhabarber labern

Neues Gremium: Bürgerrat: Über Rhabarber labern

Neues Gremium: Bürgerrat: Über Rhabarber labern

Traditionelles Matthiae-Mahl im Hamburger Rathaus: Seit 1356 kommen hier Bürger zusammen, um über Essen zu reden – ganz ohne Bundestagsbeschluß
Traditionelles Matthiae-Mahl im Hamburger Rathaus: Seit 1356 kommen hier Bürger zusammen, um über Essen zu reden – ganz ohne Bundestagsbeschluß
Traditionelles Matthiae-Mahl im Hamburger Rathaus: Seit 1356 kommen hier Bürger zusammen, um über Essen zu reden – ganz ohne Bundestagsbeschluß Foto: picture alliance/dpa | Marcus Brandt
Neues Gremium
 

Bürgerrat: Über Rhabarber labern

Wie hältst du es mit dem Bürgerrat? Diese Frage beschäftigt aktuell das politische Berlin. Der Bundestag schafft dieses Beratungsgremium ohne Entscheidungskompetenz.
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Was wollen wir essen? Dies ist wohl eine der am häufigsten gestellten Fragen unter deutschen Dächern. Höchst divers fallen dann meist auch die Antworten aus, je nachdem, wen man fragt. Bei Kindern lautet die Erwiderung häufig „Nudeln mit Tomatensoße“ oder „Fischstäbchen“; wer Arbeitnehmer in Kantinen fragt, wird laut Statistik überproportional oft „Currywurst“ zu hören bekommen. Anders vielleicht im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg, wo eine vegane Bowl bevorzugt werden dürfte.

So weit, so alltäglich und unspektakulär. Doch die Berliner Politik möchte bei dem Thema nun das ganz große Rad drehen. Und so hat am vergangenen Mittwoch der Bundestag die Einsetzung eines sogenannten Bürgerrates beschlossen – auf Antrag der Ampel-Fraktionen plus der Linken. „Ernährung im Wandel: Zwischen Privat-angelegenheit und staatlichen Aufgaben“, lautet der vollständige und reichlich großspurige Titel. Weil vier Fraktionen hinter dem Vorhaben stehen, kam eine satte Mehrheit von 402 Abgeordneten zustande, 251 Parlamentarier stimmten dagegen.

„Unsere Ernährungsgewohnheiten prägen uns als Individuen und als Gesellschaft, unterliegen aber auch stetem Wandel. Sie haben Auswirkungen auf unsere Gesundheit und die Umwelt“, heißt es an erster Stelle zum Auftrag des neuen Gremiums. Und die Volksvertreter meinen auch ganz genau zu wissen, welche Fragen das Volk so umtreiben: „Was erwarten die Bürgerinnen und Bürger in der Ernährungspolitik vom Staat? Wo soll er aktiv werden und wo nicht? Was soll der Staat ermöglichen oder erleichtern? Was wollen Konsumentinnen und Konsumenten über ihre Lebensmittel und deren Herkunft wissen? Was gehört zu einer transparenten Kennzeichnung von sozialen Bedingungen, von Umwelt- und Klimaverträglichkeit und von Tierwohlstandards?“ 

Wirklich polarisierende Themen werden umschifft

Darüber soll der Bürgerrat nun debattieren, um dann dem Bundestag bis zum 29. Februar kommenden Jahres Handlungsempfehlungen in Form eines „Bürgergutachtens“ vorzulegen. Mehr kann und darf er freilich nicht. Rechtlich gesehen ist dieser großtönend „Gutachten“ genannte Abschlußbericht damit nichts anderes als eine Petition, deren Anliegen dann im Bundestag beraten wird.  Dennoch habe der Bürgerrat einen Mehrwert für den Bundestag, sind Ampel-Fraktionen und Linke überzeugt: Der Gesetzgeber bekomme so ein „genaues Bild davon, welche Maßnahmen die Bürgerinnen und Bürger für eine gesündere und nachhaltigere Ernährung wünschen oder welchen Beitrag sie selbst dafür bereit sind zu leisten“. 

Tatsächlich, so ist aus der mit den Vorbereitungen befaßten Begleitgruppe des Bundestags zu hören, sei dieses eher „weiche“ Thema der Minimalkonsens, auf den sich die Befürworter eines Bürgerrats im Vorfeld hätten einigen können. Ein gesellschaftlich stärker polarisierendes Thema wie etwa die Asyl- oder Migrationspolitik seien nicht in Frage gekommen.

Der Aufwand für das ganze Projekt ist freilich nicht von schlechten Eltern. 20.000 zufällig ausgewählte Personen ab 16 Jahren werden angeschrieben, um aus ihnen dann per Losverfahren 160 Teilnehmer für den Bürgerrat auszuwählen. Dazu werden zunächst aus den Einwohnermelderegistern mehrerer ausgeloster Gemeinden per Zufall Stichproben gezogen. Wer angeschrieben wird, kann sich dann für eine zweite Runde der Auslosung bereit erklären.

Nicht nur der Bürger soll entscheiden

Mit der hohen Zahl von 20.000 Vor-Ausgewählten sollen die erreicht werden, „die sich statistisch gesehen weniger oft auf eine Einladung zurückmelden“. Schließlich soll der Bürgerrat eine möglichst große Vielfalt abbilden und „Bürger je nach Alter, Geschlecht, regionaler Herkunft, Gemeindegröße und Bildungshintergrund fair beteiligen“. Wie jedoch sichergestellt werden soll, daß auch beispielsweise Arbeitnehmer im Schichtdienst oder Selbständige an den zeitaufwendigen Beratungen teilnehmen und nicht nur Personen mit Tagesfreizeit, geht aus dem Beschluß nicht hervor.

So ganz auf sich selbst gestellt möchte man die Bürger freilich nicht lassen. Deswegen werden ihnen eine „Stabsstelle“ aus Verwaltungsbeamten des Bundestags (mit mehreren Stellen des höheren Dienstes) sowie eine Berichterstattergruppe aus Abgeordneten zur Seite gestellt. Als externen Dienstleister für die Organisation und Planung hat das Parlament den von früheren Grünen-Politikern mitgegründeten Verein „Mehr Demokratie“ ins Boot geholt; via Ausschreibung, auf die sich nur einer – nämlich besagter Verein – beworben hat. 

Auch ein „Wissenschaftlicher Beirat“ wird eingerichtet, wobei die Experten nicht vom Bürgerrat, sondern von den Bundestagsfraktionen (nach Proporz) bestimmt werden. Geplant ist zudem, daß Vertreter „der relevanten Verbände und Institutionen aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft“ vor Beginn der Beratungen des Bürgerrates zu einem offenen Anhörungsverfahren eingeladen werden.

„Einen Bürgerrat gibt es schon längst: den Bundestag“

Vor allem aus der verbliebenen Opposition kommt harsche Kritik. Deutschland brauche keinen Bürgerrat für Ernährungsfragen, ist der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Steffen Bilger, überzeugt. „Wir vertrauen auf das bewährte, krisenfeste repräsentative System der parlamentarischen Demokratie.“ Der beste Bürgerrat seien „die Menschen im Wahlkreis, mit denen die Politiker unmittelbaren Kontakt pflegen“. 

Die AfD begründet ihre Ablehnung anders. Zwar betonte auch ihr Parlamentarischer Geschäftsführer, Götz Frömming, in seiner Rede, daß es einen Bürgerrat längst gebe, nämlich den Deutschen Bundestag – „das ist das Gremium, in dem wir Bürger beraten und beschließen“. Doch die Fraktion verknüpft ihre Ablehnung des neuen und aufwendig ausgelosten, faktisch aber völlig machtlosen Gremiums mit der Forderung, plebiszitäre Elemente einzuführen: Volksentscheide und Referenden auf Bundesebene trügen dazu bei, die Demokratie zu stärken, nur sie seien „ein entscheidendes Instrument, um die Bürger selbst partizipieren zu lassen“, sagte Frömming im Plenum.

Nur damit könne der Souverän zwischen den Wahlen seine Stimme selbst erheben. Das, so Frömming, sei dringend notwendig, da „auf Zeit gewählte Politiker Entscheidungen treffen, die die Menschen für viele, viele Jahre aushalten müssen“. Der entsprechende Antrag der Fraktion wurde – wenig überraschend – abgelehnt.  

Quote für Vegetarier bei der Auswahl der Mitglieder

Zweifel hat die AfD-Fraktion zudem am Zustandekommen des Vertrages mit dem externen Dienstleister, dem Verein „Mehr Demokratie“. Daß in einer europaweiten Ausschreibung nur ein einziges Angebot eingegangen sei, verwundere doch sehr. Die Ausschreibungsunterlagen habe man nicht einsehen können; somit bleibt die Frage unbeantwortet, wo die Ausschreibung eigentlich lief. Ärgerlich findet die Fraktion im übrigen, daß mit „Mehr Demokratie“ ausgerechnet ein Verein ausgewählt wurde, der 2017 beschlossen hatte, in keiner Weise mit der AfD zu kooperieren. Damit würden, moniert der Abgeordnete Frömming, „Millionen Wähler vor den Kopf“ gestoßen.

Voraussichtlich nach der Sommerpause soll die heiße Phase der Beratungen des dann personell feststehenden Gremiums beginnen. Für die Teilnehmer gibt es eine Aufwandspauschale von 100 Euro pro Präsenz-Sitzungstag und 50 Euro für jede Sitzung in digitaler Form. Der Schokoriegel („wenn’s mal wieder länger dauert“) sollte so sicher finanziert sein. Die Beratungen in Kleingruppen werden nicht öffentlich sein, einzelne Inhalte über „digitale Kanäle“ an die Öffentlichkeit gebracht. In Einzelfällen können Abgeordnete und Pressevertreter zugelassen werden. 

Und damit nicht etwa die Currywurst-Liebhaber und Fischstäbchen-Fans unter sich bleiben oder die Tafelrunde zum einstimmigen Burger-Rat gerät, hat der Bundestag im Antrag schon eine Sicherheitsklausel eingefügt: So soll „der Anteil der sich vegetarisch oder vegan ernährenden Personen an der Bevölkerung im Bürgerrat abgebildet werden“. Hinter vorgehaltener Hand wird schon über einen „Mampf-Thing“ mit Tofu-Quote gelästert.

JF 21/23

Traditionelles Matthiae-Mahl im Hamburger Rathaus: Seit 1356 kommen hier Bürger zusammen, um über Essen zu reden – ganz ohne Bundestagsbeschluß Foto: picture alliance/dpa | Marcus Brandt
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