Wenn amtierende Politiker Fehler zugeben, dann wird der Bürger hellhörig. Umso genauer sollte man hinhören, wenn es sich um den Premierminister des Landes handelt. „Ich gebe zu, wir sind überrascht worden von dieser Explosion der Infektionszahlen“, sagte Giuseppe Conte Sonntag nachmittag. Conte, sonst eine Stilikone im Anzug, sitzt per Video im Pullover zugeschaltet. Es ist Sonntag. Und für rund 50.000 Italiener herrscht Ausnahmezustand im eigenen Land.
Die Carabinieri haben elf Kommunen von der Außenwelt abgeschnitten. Nur Versorgungskorridore werden freigehalten. Italien, wo die Pestwellen ab dem Spätmittelalter ihren Ausgang nahmen, und das uns bis heute Worte wie „Quarantäne“ und „Lazarett“ beschert hat, ist als Hafen der Welt stets Einfallstor für neue Seuchen gewesen. Früher als Endpunkt der Seidenstraße, heute als Endpunkt der „Maritime Silk Road“. Chinesische Touristen in den Kulturzentren und chinesische Arbeiter in den Industriehochburgen sind seit Jahren Normalität, der Austausch zwischen der Wirtschaftsmetropole Mailand und den boomenden Städten der ostasiatischen Küste Alltag.
Italien reagierte im Vergleich zu Deutschland sehr empfindlich
Bereits Ende Januar hatte Italien im Vergleich zu Deutschland sehr empfindlich auf die ersten beiden Fälle des Coronavirus COVID-19 reagiert: Ausrufung des nationalen Notstands, anschließend Abbruch des direkten Flugverkehrs in die Volksrepublik. Peking war darüber alles andere als erfreut. Die Anstrengungen haben offensichtlich wenig ausgerichtet. Die Suche nach dem „Patienten Null“, der das Virus eingeschleppt und weiterverbreitet hat, erwies sich bisher als erfolglos. Ein 39 Jahr alter Mann aus Codogno, der größte Ort in der abgesperrten „roten Zone“ südöstlich von Mailand, galt lange als wahrscheinlichster Überträger. Mittlerweile hat sich diese Theorie erledigt.
Seit drei Tagen steigt die Zahl der Infizierten sprunghaft an. Waren es am 21. Februar noch 20 Fälle in der ganzen Republik, so waren es am Samstag auf 79. Am Sonntag verdoppelte sich die Zahl auf 156 bestätigte Fälle. Die Regierung sah sich zu drastischen Maßnahmen gezwungen. Neben der Einrichtung der „roten Zone“ bedeutete das: Schließung von Schulen, Theatern, Museen und anderen öffentlichen Einrichtungen in den Krisenregionen. Messen wurden dort ebenso wie Fußballspiele abgesagt.
Die Behörden strichen den Karneval aus dem Programm, inklusive der berühmten Veranstaltung in Venedig. In einigen Teilen wurden Bars, Restaurants und Diskotheken geschlossen. Im Umland Mailands kam es am Sonntagmorgen zu Hamsterkäufen. In der Nacht von Sonntag auf Montag schloß Österreich vorübergehend den Zugverkehr auf dem Brenner.
Zahlen ändern sich stündlich
Nach aktuellem Stand (Montag mittag) haben sich 224 Menschen mit dem Virus angesteckt, sechs sind gestorben, die Zahlen ändern sich stündlich. Die Kleinstadt Codogno mit 16.000 Einwohnern gilt mittlerweile als „italienisches Wuhan“. Die Straßen sind dort leergefegt wie man es aus der chinesischen Berichterstattung kennt. Ein Mann aus dem ebenfalls abgeriegelten Casalpusterlengo beschreibt das gegenüber der Tageszeitung Repubblica so: „Es scheint, als wären wir im Krieg. Wir sind blockiert, die Geschäfte sind zu, nur die Supermärkte haben offen. Wir treten gestaffelt ein, Fleisch gibt es keines mehr. Die Leute haben Angst.“ Im Krankenhaus von Codogno sagte ein Apotheker, daß die Lage weitaus schlimmer sei als von Regierung und Medien dargestellt. Das venetische Vo‘, ein Ort von 3.300 Einwohnern am Fuße der Euganeischen Hügel, liegt 150 Kilometer entfernt und wurde ebenfalls unter Quarantäne gestellt.
Neben der Lombardei und Venetien werden Fälle aus der Emilia-Romagna, dem Piemont, dem Trentino und der Hauptstadtregion Latium gemeldet. Es sind die wirtschaftlich und demographisch bedeutendsten Teile des Landes. Mailändische Modemarken sagen ihre Veranstaltungen ab. Giorgio Armani schließt sämtliche Produktionsstätten in den betroffenen Regionen für eine Woche. Italdesign Giugiaro, das zur Audi AG gehört, hat wegen eines Corona-Falls seine Werke und Firmenzentrale geschlossen.
Die großen Konzerne versuchen die Zeit mit „smart working“, heißt Videokonferenzen und Homeoffice zu überbrücken. Die italienische Volkswirtschaft büßt deswegen bereits Millionen Euro pro Tag ein. Der Ausfall wegen stornierter Übernachtungen und dem Einbruch im Tourismus sind noch nicht einberechnet. Der Direktor der Banca d’Italia, Ignazio Visco, sagt, daß das Coronavirus mehr als 0,2 Prozent des BIP betreffen könnte. EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni warnte davor, daß COVID-19 ein „großes Risiko“ für die Weltwirtschaft sein könne. BDI-Hauptgeschäftsführer Joachim Lang forderte angesichts der Lage die Bundesregierung zu einem „koordinierten wirtschaftspolitischen Vorgehen“ auf.
Österreichs Gesundheitsminister: „Corona ist in Europa angekommen“
„Corona ist in Europa angekommen“, stellte Österreichs Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) am Montag auf einer Pressekonferenz fest. Die Regierung in Wien präsentierte geplante Maßnahmen gegen eine mögliche Pandemie. „Es besteht kein Grund zur Panik, aber natürlich braucht es einen realistischen Blick auf die Dinge“, sagte Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) laut der Nachrichtenagentur APA. Die Krankheit werde keinen Bogen um Österreich machen.
Wien werde die Warnketten mit Nachbarländern enger knüpfen, um bei Verdachtsfällen sofortige Grenzstopps veranlassen zu können. Zudem planten Innen- und Gesundheitsministerium eine Informationskampagne. Auch in Österreich könnten die wirtschaftlichen Schäden im Falle eines Ausbruchs enorm steigen. Bereits vor den ersten Fällen in Italien hatte der Wissenschaftsverein
Complexity Science Hub Vienna ausgerechnet, COVID-19 könnte Österreich rund 1,1 Milliarden Euro allein durch Exportverluste kosten.
Dax sackt ab
Die Stimmung ist am Montag morgen auch an den Börsen gesunken. Wenige Minuten nach dem Handelsstart um neun Uhr sackte der deutsche Leitindex Dax um bis zu vier Prozent ab. „Das Grundvertrauen der Anleger sackt weiter deutlich ab“, sagte der Analyst von Sentix, Manfred Hübner, der Nachrichtenagentur dpa. „Mit Italien schießt die Angst vor einer globalen Pandemie nach oben“, ergänzte Carsten Brzeski von der ING-Bank.
Gerade in Italien herrschte in den vergangenen Monate eine angespannte Wirtschaftslage. Während Finanz- und Wirtschaftsprofis die vergangenen Tage und Wochen eher gelassen mit dem Corona-Virus umgingen, wird sich das wohl spätestens mit der weiteren Ausbreitung in Italien und Mitteleuropa deutlich ändern.