Es war einmal, da begegneten Deutsche und Türken einander mit Hochachtung. Die Eliten beider Länder waren über Jahrhunderte eng verbunden; trotz der Glaubensdifferenzen galt die kriegerische Reitertradition der Turkvölker vielen Deutschen als seelenverwandt. Die Zeiten sind lang vorüber.
In Deutschland ist man der Meinung, sich selbst neu erfunden zu haben, pazifistisch und aufgeklärt. Deutschland versteht sich heute ausdrücklich als Herold der „europäischen Werte“. Auch in der Türkei marschiert man in neue Richtungen. Nach 1900 erkannte der osmanische Offizier Mustafa Kemal Pascha, daß nur radikale Reformen nach westlichem Vorbild seiner erniedrigten Nation die Zukunft sichern konnten.
Was für den Untergang des Osmanischen Reiches verantwortlich war – byzantinische Strukturen, die Übermacht des islamischen Klerus –, mußte hinweggefegt und vernichtet werden. Einhundert Jahre später ist Atatürks, so Kemal Paschas Titel als „Vater der Türken“, Ziel erreicht. Längst verfügt die Türkei über genügend Mittel und Macht, ihrer eigenen Wege zu gehen. Daß die nicht nach Europa führen, war kulturell sensiblen Beobachtern schon im vergangenen Jahrhundert klar.
Konfrontation war programmiert
Die Konfrontation mit der Führungsmacht des postmodernen Europas – Deutschland – war programmiert. Deutlich pointierter als die übrigen westeuropäischen Mächte, und zudem quer durch das Parteienspektrum, hat Berlin sich dem Primat der „europäischen Werte- und Friedensordnung“ verschrieben.
Dabei kollidiert die Berliner Politik nicht ohne Grund mit den zwei Mächten, die nicht nur geographisch, sondern auch mental und kulturell in Europa und in Asien zuhause sind: Türkei und Rußland. Es ist die Tragik der gegenwärtigen deutschen Politikergeneration, daß sie ihren ideologischen Prioritäten zwei historisch bewährte außenpolitische Beziehungen opfert – im Fall Rußland bewährt und belastbar auch ungeachtet der Kriege 1914-45.
Die Türkei, deren Politiker genau spüren, daß Deutschland zwar nicht der Wille zur Dominanz fehlt, aber die Mittel sie durchzusetzen, provoziert. Die Einreiseverweigerungen für deutsche Parlamentarier nach Incirlik und Konya sind gezielte Ohrfeigen. Die Reaktion der deutschen Politik – Empörung, Verhandlungsangebote, Sehnsucht nach Konsens und Kompromiß – lädt aus türkischer Sicht geradezu zum Nachtreten ein.
Ultima ratio: Flüchtlinge
Das schlägt sich in den frechen Forderungen nach Politikerauftritten in deutschen Arenen ebenso nieder wie in den Festnahmen deutscher Staatsbürger, deren Freilassung dann im Austausch gegen vermeintliche Oppositionelle angeboten wird. Türkische Piraterie nach Art des 21. Jahrhunderts.
Die Wunderwaffe in Form der Grenzöffnung für Millionen ausreisewilliger Araber, Afghanen und Iraner behält Ankara sich als ultima ratio vor. Seit alle Welt weiß, daß Europa unfähig ist, seine Grenzen gegen unbewaffnete Migranten zu verteidigen, verstärkt schon die unausgesprochene Drohung jede türkische Forderung wie ein Damoklesschwert.
Mit der Sanktion offizieller Reisewarnungen für die Türkei greift Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) jetzt zu größerem Kaliber. Zudem kündigte der Minister weitere Konsequenzen an. Zur Diskussion stehen angeblich die Hermes-Kredite für die Exportwirtschaft. Auslöser der jüngsten Eskalation war die Verhaftung eines deutschen sogenannten Menschenrechtlers der Nichtregierungsorganisation Amnesty International mit fünf anderen Aktivisten bei einem Workshop in Istanbul.
NGOs zündeln, wo gezündelt werden kann
Nach Aussagen der Organisation ging es dabei um IT-Management und Datensicherheit; so wurde es auch in den deutschen Medien kolportiert. Im Internet kursierte allerdings die Version, wonach Amnesty International türkischen NGO-Vertretern gezeigt habe, wie man seine Server vor staatlichem Zugriff schützt.
So etwas rechtfertigt nicht den Vorwurf des Terrorismus, der jetzt gegen die Verhafteten erhoben wird, aber es beleuchtet die Rolle vieler NGO, die im Glauben an ihre zivilisatorische Überlegenheit bewußt politische Krisen provozieren.
Ob NGO-Schlepper vor der lybischen Küste, die zur kostenlosen Überfahrt nach Italien einladen, oder westliche „Aktivisten“, die demonstrierenden Analphabeten in der Dritten Welt englischsprachige Demoschilder in die Hand drücken – die „progressiven“ Kräfte zündeln, wo gezündelt werden kann. Der Schaden, den die Brände anrichten, ist ihnen egal. Hauptsache, die Flamme ihres moralischen Hochmuts war weithin sichtbar in der Nacht.