Der gedämpfte Ton, in dem Deutschland der Revolution von 1848 / 49 gedenkt, hat verschiedene Ursachen. Eine ist die Behauptung ihres Scheiterns, eine andere der Vorwurf gegen die Hauptkraft der Revolution – die Liberalen –, ihre Prinzipien verraten zu haben. Womit der Eindruck verfestigt wird, als sei auch dieses Ereignis ein Schritt auf dem deutschen Sonderweg gewesen, der notwendig bei Hitler und Auschwitz endete.
Nichts könnte weiter von der Bedeutung des Jahres 1848 entfernt sein, das einen wichtigen Einschnitt der historischen Entwicklung markiert, allerdings nicht in dem Sinn, den die Akteure ursprünglich erwartet hatten. Denn nach der Aufstandsbewegung im März, dem raschen Zusammenbruch des Widerstands der Regierungen in den Einzelstaaten und der enthusiastischen Atmosphäre der folgenden Wochen gelang es der Verfassunggebenden Nationalversammlung nicht, die drei „Deutschen Fragen“ zu beantworten: Zentralismus oder Föderalismus? Kleindeutsch oder Großdeutsch? Monarchie oder Republik?
Und der Kompromiß – Föderalismus, Kleindeutschland, Monarchie –, den man schließlich fand, war nicht mehr umzusetzen. Was am Sieg der Gegenrevolution in Wien und Ungarn lag wie am Unwillen des preußischen Königs, sich zum „Kaiser der Deutschen“ machen zu lassen, und zuletzt an der wachsenden Sorge der Mitte und der gemäßigten Rechten, daß die Linke versuchen würde, die nationale Einheit gewaltsam und unter ganz anderen Bedingungen zu verwirklichen: Zentralismus, Großdeutschland, Republik.
Die Revolution von 1848 brachte viel positives
Zur Verwirklichung dieses Plans fehlte es den Anführern aber an jakobinischer Begabung, und hinzu kam die Ungunst der außenpolitischen Lage. Frankreich lauerte nur auf eine weitere Schwächung Deutschlands durch einen Bürgerkrieg, um auf den Rhein vorzustoßen, Großbritannien hatte im Zusammenhang der Schleswig-Holstein-Frage klargestellt, wie weit es gehen würde, um das zu erhalten, was es unter „Europäischem Gleichgewicht“ verstand, und Rußland sah sich als Garantiemacht des Status quo ante, was auch darin zum Ausdruck kam, daß es für Österreich eintrat und durch den Vertragsentwurf von Olmütz jeden Versuch Preußens zunichte machte, wenigstens eine nationale Minimallösung zu verwirklichen.
Womit der Blick auf die Folgen der Revolution von 1848 gelenkt ist. Deren positiver Ertrag sollte nicht unterschätzt werden. Das galt vor allem im Hinblick auf die breite Anerkennung moderner Verfassungsprinzipien. Nicht einmal die Rückkehr Österreichs zum Absolutismus konnte darüber hinwegtäuschen, daß Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Kontrolle der Exekutive durch ein gewähltes Parlament zur allseits anerkannten Norm geworden waren. Das galt erst recht nach dem Erlaß der „oktroyierten“ Verfassung Preußens im Jahr 1850. Obwohl sie nicht allen Erwartungen der Liberalen entsprach, führte sie dazu, daß die stärkste patriotische Kraft bald mehrheitlich Potsdam als organisierendes Zentrum eines zukünftigen deutschen Nationalstaates betrachtete.
Vorbereitet hatte das schon dessen „Hereinwachsen“ nach Deutschland in Folge des Wiener Kongresses, die Gründung des Deutschen Zollvereins und die vorbildliche Arbeit eines modernen Beamtenapparats. Aber ein Faktor war auch, daß es in der Führungsspitze Preußens Konservative wie Joseph Maria von Radowitz gab, die dessen „deutschen Beruf“ erkannten und im Entwurf vorwegnahmen, was Bismarck in die Tat umsetzen sollte: die Schaffung eines kleindeutschen Reiches unter preußischer Führung bei Wahrung enger Beziehungen zur Habsburgermonarchie und mithin den Deutschen Österreichs.
„Nicht eine Frage der Freiheit, sondern eine Frage der Macht“
Bismarck selbst hat unter dem Eindruck der Revolution von 1848 seine reaktionäre Haltung korrigiert und in der bürgerlichen Nationalbewegung jetzt weniger den Gegner als den potentiellen Verbündeten gesehen. Das war allerdings nur möglich, weil sich auch auf deren Seite ein Umdenken vollzog, das zehn Jahre nach der Revolution seinen sichtbaren Ausdruck in der Gründung des Deutschen Nationalvereins fand, jenem Zusammenschluß von Demokraten und Liberalen, die am Ziel des nationalen Verfassungsstaates festhielten.
Gleichzeitig erkannten sie an, daß unter „den gegenwärtigen Verhältnissen … die wirksamsten Schritte zur Erreichung dieses Zieles nur von Preußen ausgehen“ konnten, und: „Es ist Pflicht jedes deutschen Mannes, die preußische Regierung, insoweit ihre Bestrebungen davon ausgehen, daß die Aufgaben des preußischen Staates mit den Bedürfnissen und Aufgaben Deutschlands im Wesentlichen zusammenfallen und soweit sie ihre Tätigkeit auf die Einführung einer starken und freien Gesamtverfassung Deutschlands richtet, nach Kräften zu unterstützen.“
Keine Abkehr von liberalen Grundsätzen
Was hier zutage trat, war keine Abwendung von liberalen Grundsätzen, denn an der Notwendigkeit einer „freien Gesamtverfassung“ ließ man keinen Zweifel. Allerdings hatte man begriffen, daß diese „freie Gesamtverfassung“ nur als eine „starke“ möglich war. Das bedeutete den Abschied von Erwartungen in den notwendigen Gang des Fortschritts oder die ideale Ordnung oder die Utopie eines schiedlich-friedlichen Zusammenlebens aller Völker, also von allem, was die eigene Politikfähigkeit deutlich begrenzt hatte, indem man die entscheidende Lektion von 1848 beherzigte: „Das deutsche Problem war nicht eine Frage der Freiheit, sondern eine Frage der Macht.“
Der Satz stammt von dem Historiker Max Duncker, den manche Zeitgenossen für den überlegenen Kopf der Frankfurter Nationalversammlung hielten. Duncker hatte nicht allen Träumen des Vormärz nachgehangen, galt aber in Preußen doch als so unsicherer Kantonist, daß ihm eine akademische Karriere versagt blieb. Er ging für einige Jahre an die Universität Tübingen, kehrte aber nach der Thronbesteigung Wilhelms I. in seine Heimat zurück, näherte sich Bismarck an und wurde deshalb mit dem Entwurf der Verfassung des Norddeutschen Bundes betraut, der Grundlage für die Verfassung des Deutschen Reiches von 1871, die keineswegs zufällig an entscheidenden Punkten die Struktur der Paulskirchenverfassung von 1849 aufwies.