Sie sind jung, irgendwo in ihren 20ern und 30ern, sehen aus, als kämen sie aus der großen Stadt und hätten einen akademischen Hintergrund. Statt Jackett und Anzugschuhe tragen sie, genau wie ihre linken Kommilitonen und Arbeitskollegen, Sneakers und Pullover. So sehen Teile des Publikums aus, wenn CDU-Chef Friedrich Merz zum Gespräch nach Berlin kommt.
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Diese Gruppe mischte sich mit betagteren Zuschauern, insgesamt waren es knapp 80 Menschen im etwa zur Hälfte gefüllten Berliner Veranstaltungssaal der Urania. Eine Stunde lang stellte sich der Sauerländer den Fragen der Journalisten Mariam Lau und Roman Pletter. Mit Blick auf die anstehenden Landtagswahlen in Niedersachsen, bei denen aktuelle Umfragen die SPD vor den Christdemokraten sehen, versicherte Merz als erstes pflichtbewußt, nur Wahlergebnissen zu vertrauen.
Merz war an diesem Abend in seinem Element. Sachfragen, etwa zur Energiekrise, beantwortete er ausführlich und fachkundig. Die Arbeit der Ampel-Regierung attackierte er entschieden. Das 200 Milliarden-Entlastungspaket hätte er als Kanzler „noch nicht ins Schaufenster gestellt“, bevor dessen Verwendung ausgearbeitet sei. Erst Geld versprechen und danach planen, sei nicht zielführend. Auch den Umgang des Bundeskanzlers Scholz (SPD) mit der Opposition bemängelte er, vor allem da er den direkten Vergleich zu Altkanzler Gerhard Schröder habe. Am 11. September 2001 habe Merz, der auch damals Oppositionsführer war, Schröder angerufen. Innerhalb von einer Stunde hätten sich Vertreter aller Bundestagsparteien und der Sicherheitsbehörden im Kanzleramt getroffen. Nach der russischen Invasion am 24. Februar habe Scholz sich hingegen erst zwei Tage später bei ihm gemeldet.
Merz: Hartz IV als „Trauma der SPD“
Merz kritisierte die 300 Euro-Pauschale zur Entlastung der Bürger angesichts der rasant gestiegenen Energiepreise. Seiner Meinung nach wäre es sinnvoller gewesen, die Höhe der Zahlungen an die finanzielle Lage der Bürger zu koppeln. Das untere Einkommensdrittel sollte 1.000 Euro bekommen und Gutverdiener nichts. Auf den geplanten Ausbau des Kanzleramts angesprochen, drückte sich Merz um eine klare Aussage. Wäre er Kanzler, würde er zumindest die Sinnhaftigkeit dieses Projektes prüfen. Das Bürgergeld sei de facto ein Ausgleich für Hartz IV, „das Trauma der SPD“, wie er es nannte. Das Lohnabstandsgebot werde durch ein bedingungsloses Bürgergeld für jedermann torpediert.
In Bezug auf die Zukunft des Konservatismus sagte Merz, es gehe darum, „Sicherheit und Beständigkeit im Wandel“ zu vertreten. „Ein gewisses Koordinatensystem“ müsse erhalten bleiben. Er forderte „eine Lösung des Klimaproblems“, die mehr auf technischen Fortschritt, als auf Verzichtsappelle setze. Er versprach ein neues CDU-Grundsatzprogramm bis 2024. Der Sozialstaat, vor allem das derzeitige Rentensystem in Zeiten des demographischen Wandels sei „eine tickende Zeitbombe“, hier gebe es großen Handlungsbedarf.
Er entschuldigte sich erneut für seine „Sozialtourismus“-Äußerungen über einige ukrainische Flüchtlinge. Die Formulierung sei eine unzulässige Verallgemeinerung gewesen. Zugleich betonte er jedoch, sehr viel positiven Zuspruch erhalten zu haben. Die Brandmauer zur AfD stehe weiterhin, jedoch sei es gefährlich, Kritiker des Rundfunks, der Gendersprache oder der Einwanderungspolitik pauschal in eine rechtsradikale Ecke zu rücken.
Merz lobt „Pragmatismus“ der Grünen
Merz beteuerte, sich die FDP vergangener Tage als Koalitionspartner gut vorstellen zu können, jedoch sei eine Zusammenarbeit in Regierungsverantwortung auf Bundesebene zwischen den Christdemokraten und den Liberalen „rein rechnerisch“ in der nahen Zukunft unwahrscheinlich. Den Umgang der SPD mit seiner Partei bezeichnete er als „befremdlich“, eine Große Koalition wolle er nicht. Unerwartetes Lob hatte er für die Grünen übrig. Deren Abgeordnete seien „höflich“ gegenüber seiner Fraktion. Bei großen Teilen der Grünen sehe er eine Bereitschaft zum „politischen Pragmatismus“. Ob er bei der Bundestagswahl 2025 als Kanzlerkandidat antreten wolle? „Meine wichtigste Aufgabe ist, die Partei so zu führen, daß wir überhaupt wieder in die Nähe des Bundeskanzleramts kommen.“ Über alles Weitere mache er sich vorerst keine Gedanken.
Im Anschluß an einige Zuschauerfragen posierte Merz noch für Fotos mit Zuhörern, bevor er sich aufmachte, um sich mit Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) zu treffen. Was bleibt ist die Erkenntnis, daß Merz ein fähiger Redner und Diskussionspartner ist, der es vermeidet, sich allzu weit aus dem Fenster zu lehnen. Konservatismus, Klimaschutz, Kooperationsbereitschaft mit den Grünen, Reformen des Sozialstaats. Merz will für all das stehen und dabei seine Partei zusammenhalten.