Die AfD wäre nicht die AfD, würde das Wundenlecken nach den beiden Landtagswahlen vom vergangenen Sonntag nicht ohne Beißreflexe auskommen. Nach wie vor ist die Partei „gärig“, nach wie vor stehen sich die Exponenten der innerparteilichen Lager unversöhnlich gegenüber. Und so unterscheiden sich auch die Interpretationen der Wahlergebnisse und die Frage, welche Schlußfolgerungen daraus zu ziehen seien, sehr deutlich voneinander. Wo die einen euphemistisch von „Konsolidierung“ sprachen, beklagten andere alarmistisch ein „Desaster“.
Sowohl in Baden-Württemberg als auch in Rheinland-Pfalz hat die AfD Wähler verloren, das ist unstrittig. Symbolisch verstärkt wird das durch die Tatsache, daß man in Stuttgart und Mainz jetzt nur noch einstellig ist. 9,7 Prozent erzielte die AfD in Baden-Württemberg (minus 5,4 Prozentpunkte), 8,3 Prozent in Rheinland-Pfalz (minus 4,3 Prozentpunkte) – bei einer Verringerung der Wahlbeteiligung von 6,6 beziehungsweise 6 Prozent.
Daß in beiden Ländern der AfD der Wiedereinzug in den Landtag ungefährdet und ohne jegliches Zittern vor der Fünfprozenthürde gelungen ist, geriet dabei in den Hintergrund. Obwohl dies für eine klar rechts der Mitte verortete Partei in der (westlichen) Bundesrepublik eher die Ausnahme als die Regel ist. Nach wie vor gilt damit: Die AfD ist die im politischen Wettbewerb erfolgreichste Partei rechts von Union und FDP.
Der sogenannte „AfD-Effekt“ blieb aus
Was am Sonntag vor einer Woche dagegen ausblieb, war der sogenannte „AfD-Effekt“. Zuvor hatte die Partei stets für einen Anstieg der Wahlbeteiligung gesorgt – und von diesem auch selbst besonders profitiert. Denn die Wahlbeteiligung stieg stets dort überdurchschnittlich, wo sie sonst am niedrigsten war: in den „sozial prekären“ Stimmbezirken. Hier konnte in der Vergangenheit die AfD besonders viele Wähler für sich mobilisieren. Nun ist also trotz der AfD die Wahlbeteiligung nicht gestiegen, sondern gesunken.
Umgehend zogen Politiker und Funktionäre in den verschieden sozialen Medien daraus den Schluß, daß deswegen erstens ein anderes Klientel angesprochen und zweitens der politische Kurs geändert werden müßte. „Das wichtigste Wählerpotential besteht in dem großen und weiter wachsenden Reservoir der Nichtwähler. Diese Klientel steht in fundamentaler Opposition zu der herrschenden Politik und läßt sich nicht mit lauen, biedermännischen und angepaßten Positionen an die Wahlurne bringen“, meinte etwa Thüringens AfD-Chef Björn Höcke. Und weiter: „Das Schielen nach der ominösen ‘bürgerlichen Mitte’ hat sich einmal mehr als falsch erwiesen, wie ein Blick auf die Wählerwanderung zeigt.“
Wie aber sah diese aus? In Baden-Württemberg wechselten 110.000 frühere AfD-Wähler zu den Nichtwählern. In der Tat ist das der größte Einzelposten und entspricht über der Hälfte der Zugewinne aus dem Nichtwählerlager, welche die AfD bei der Landtagswahl 2016 erhielt. Doch zusätzlich verlor die AfD 70.000 Wähler an die CDU und 40.000 an die FDP. Zusammen sind das genauso viele wie die Abgänge zu den Nichtwählern. Und sogar 10.000 Wähler, die ihr Kreuz 2016 bei der AfD gemacht hatten, machten es diesmal bei den regierenden Grünen, 5.000 bei der SPD.
In Rheinland-Pfalz gingen 61.000 ehemalige AfD-Wähler diesmal nicht zur Wahl, 12.000 kamen jedoch von den Nichtwählern des Jahres 2016 hinzu, was einen Saldo von 49.000 zu den Nichtwählern Abgewanderten ergibt. 7.000 wählten diesmal die SPD von Ministerpräsidentin Malu Dreyer, 3.000 die Grünen. Jeweils 5.000 Ex-AfD-Wähler gingen zu FDP und Freien Wählern, 4.000 machten diesmal das Kreuz bei der CDU. Insgesamt wechselten dort 29.000 ehemalige AfD-Wähler zu anderen Parteien.
Die Motive der Nichtwähler sind unklar
Das „Schielen“ nach der „ominösen ‘bürgerlichen Mitte’“ – zu der man Union, FDP und Freie Wähler sicherlich zählen kann – wäre also gar nicht so unangebracht. Hinzu kommt, daß die Motive, warum ehemalige AfD-Wähler nun zu Nichtwählern wurden, weniger eindeutig feststellbar sind. Im Falle der zu den etablierten Parteien CDU oder FDP abgewanderten, fällt das etwas leichter. Zumindest ist bei denen davon auszugehen, daß ihnen die AfD sicherlich nicht zu „angepaßt“ erschien … Bei den Nichtwählern könnte es dagegen viele Gründe haben: War ihr Protest vielleicht nur ein einmaliger? Ist ihnen die AfD zu etabliert oder zu stark auf Krawall gebürstet, stoßen Skandale oder die Zerstrittenheit der AfD sie ab, stört sie der Kurs des Bundesvorstands oder derjenige seiner innerparteilichen Opponenten – oder spielt das vielleicht alles keine Rolle? Gab möglicherweise die Sorge vor Corona den Ausschlag, nicht zu wählen oder war es schlicht Desinteresse …?
Einer früheren Studie der Bertelsmann-Stiftung über die Bundestagswahl 2017 zufolge sind es tatsächlich zwei Milieus, in denen die AfD vor allem punkten konnte: in dem der bürgerlichen Mitte und im sozial prekären Milieu. Während in diesem die AfD vor allem Nichtwähler in großem Stil mobilisierte, machte sie im Kampf um die bürgerliche Mitte in erster Linie der CDU/CSU Konkurrenz. Im sogenannten Milieu der Prekären, wo laut Erhebungen die Wahlbeteiligung im Schnitt fast 20 Prozentpunkte unter der Gesamtwahlbeteiligung liegt, kam die AfD bei der Bundestagswahl 2017 mit 28 Prozent auf ihr stärkstes Ergebnis. Doch gleich an zweiter Stelle folgte das Milieu der bürgerlichen Mitte, wo die AfD ein Wahlergebnis von 20 Prozent erreichte.
AfD-Wähler fürchten den sozialen Abstieg
Dies sorgt „für eine gewisse Heterogenität und Zweiteilung der Anhängerschaft“ der AfD, die sich auffächert „zwischen prekären Verhältnissen und einer durchschnittlichen Etabliertheit“, sowie zwischen Nichtwählern einerseits und CDU/CSU-Wählern andererseits, wie es in einem Aufsatz der Zeitschrift für Parlamentsfragen hieß. Bei allen Unterschieden eint die Sorge um den eigenen Wohlstand und die Angst vor sozialem Abstieg.
Vergegenwärtigt man sich, woher die Aufforderung, die AfD müsse sich nach dem jüngsten Wahlsonntag stärker der (tendenziell nicht-wählenden) „Kleinen Leute“ annehmen, in erster Linie kommt, wird klar, daß damit vor allem auch ein inhaltlicher Kurswechsel der Partei einhergehen soll. Mehr „Sozialpatriotismus“, wie es Björn Höcke nennt, ein eher etatistischer Kurs, eine stärkere Orientierung am Vorbild der Ost-AfD. Die Stimmen für die AfD lägen „auf der Straße“, meinte der Parlamentarische Geschäftsführer der Brandenburger AfD, Dennis Hohloch, ein deutliches Signal in Richtung „Bewegungspartei“.
Die Ostverbände der AfD, resümierte Höcke, zeigten „eindrucksvoll, daß man auch ohne Regierungsbeteiligung Politik mitgestalten“ könne. Wobei sich auch in den Landtagen der sogenannten neuen Bundesländer mit ihren mitgliederstärkeren AfD-Fraktionen die Tendenz „alle gegen eine“ verfestigt hat. Die Gründe dafür, daß die AfD dort deutlich höhere Zustimmungswerte erhält als in der „alten“ Bundesrepublik sind vielfältig: Eine deutlich geringere Parteibindung, eine größere Sorge, wirtschaftlich abgehängt zu sein, eine stärkere Skepsis gegenüber Zuwanderung und Globalisierung sowie eine verbreitetere Wertschätzung des Nationalstaats sind ein paar.
Vieles hängt mit der Erfahrung der DDR-Zeit zusammen. Das Beispiel Berlin veranschaulicht dies. Ein und derselbe AfD-Landesverband erzielt im früheren Ostteil der Stadt durchschnittlich bessere Ergebnisse als im ehemaligen West-Berlin. Bei der Abgeordnetenhauswahl 2016 betrug der Unterschied fünf Prozentpunkte, in der jüngsten Umfrage sind es vier.
Strategiepapier benennt fünf Hauptzielgruppen
Daraus folgt, daß die Rechnung, die West-AfD müsse sich nur mehr an der Ost-AfD orientieren, schon schnellten auch dort am Wahlabend die Prozentzahlen hoch, nicht aufgeht. Allein zahlenmäßig wird deutlich, was die Regel und was die Ausnahme ist. Mit über 50 Millionen Wahlberechtigten stellen die alten Bundesländer rund 83 Prozent aller Wahlberechtigten in Deutschland, die neuen mit gut zehn Millionen 16,6 Prozent.
Die Idee indes, daß die AfD sich – auch – den sogenannten „Kleinen Leuten“ zuwenden sollte, ist weder neu noch eine Erfindung der Vertreter des „Sozialpatriotismus“ im Osten des Landes. Bereits in einem im Dezember 2016, also ein Dreivierteljahr vor dem Einzug der AfD in den Bundestag, für den damaligen Parteivorstand erstellten Strategiepapier ist die Rede von fünf Hauptzielgruppen. Neben den „bürgerlichen Wählern mit liberal-konservativer Wertorientierung“ werden da auch Protestwähler, Nichtwähler sowie „Bürger mit unterdurchschnittliche Einkommen in sogenannten prekären Stadtteilen“ genannt, die sich zu „Ordnung, Sicherheit und Patriotismus“ bekennen und sich „außerdem als Verlierer der Globalisierung fühlen“. Autor des Papiers war übrigens das damalige Vorstandsmitglied Georg Pazderski, einer der innerparteilichen Widersacher des (aufgelösten) „Flügels“ und seines Repräsentanten Höcke.
Fraglich bleibt im übrigen, ob mit dieser Hinwendung zu den „kleinen Leuten“ auch eine inhaltlich-programmatische Wende einhergehen müßte, um mehr Erfolg an der Wahlurne zu haben. Dagegen spricht, daß die AfD ihren Erfolg gerade im sogenannten prekären Milieu bei der Bundestagswahl 2017 erzielte, obwohl ihr Programm in punkto Wirtschafts- und Sozialpolitik sich eindeutig gegen mehr Umverteilung aussprach. Der Wirtschaftswissenschaftler Matthias Diermeier kam in einer Untersuchung zu einem erstaunlichen Ergebnis: „Beeindruckenderweise lehnen die Unterschicht-AfD-Anhänger Umverteilung stärker ab als Nicht-AfD-Anhänger der (selbst deklarierten) oberen Mittelschicht und sogar der Oberschicht.“ Ausschlaggebend für ihre Erfolge waren also eher ihre Positionen auf anderen Themenfeldern.
Nichtwähler meiden Wahlurnen zumeist aus Desinteresse
Dies spiegelt sich übrigens auch im Abstimmungsverhalten der AfD im Bundestag wieder. Dort votierte die Fraktion beispielsweise bei Anträgen zur Sozial- und Wirtschaftspolitik (in der Zeit von 2017 bis Frühjahr 2020) in 57 Prozent der Fälle genauso wie die FDP. Mehr Übereinstimmung gab es hier mit keiner anderen Fraktion. Sozialpolitisch gegensätzlich positionierte sich die AfD dagegen am häufigsten zur Linkspartei. Bei innenpolitischen Themen befand sich die AfD am häufigsten in Übereinstimmung mit der Union und am seltensten mit den Grünen.
Bleibt die Frage, inwieweit die Nichtwähler – eine „Blackbox“ – der AfD die erhofften Stimmen liefern könnten, wie es nun einige in der Partei vehement vertreten. Von einer „Partei der Nichtwähler“ zu sprechen verbietet sich, da sie dafür zu wenig homogen sind. Der Anteil von Nichtwählern steigt, je niedriger das Haushaltseinkommen ist. Überrepräsentiert sind zudem laut Studien Arbeitslose und Wahlberechtigte mit Migrationshintergrund.
Aus früheren Umfragen geht hervor, daß der häufigste Grund für die Nichtteilnahme an der Wahl das Desinteresse ist. Weit geringer wird als Grund angeführt, daß Wahlen eh nichts änderten und kaum Unterschiede zwischen den Parteien bestünden. Daß – wie Björn Höcke in seiner Wahlnachbetrachtung schrieb – die Nichtwähler „in fundamentaler Opposition zur herrschenden Politik“ stünden, ist eine unbewiesene Behauptung. Unstrittig ist dagegen, daß Nichtwähler sich von den Parteien ganz allgemein nicht vertreten fühlen. Der Frage, inwieweit sie bei der AfD eine Ausnahme machen, wäre also nachzugehen.
Wähler wünschen weniger Skandale
Der Landesvorstand in Baden-Württemberg hat bereits angekündigt, ein „professionelles Institut“ mit einer „auf uns zugeschnittenen Wahlanalyse“ zu beauftragen. Aus jüngeren Erhebungen geht hervor, daß die Zustimmungswerte der AfD unter den Nichtwählern nicht höher, sondern sogar niedriger lagen als in der allgemeinen Sonntagsfrage.
Unter den potentiellen Wählern der AfD indes würde sich die Wahrscheinlichkeit einer Wahl der Partei am häufigsten erhöhen, wenn diese weniger durch Skandale auffiele (47 Prozent) und koalitionsfähig wäre (42 Prozent), ergab eine Umfrage der Meinungsforscher von Insa im Auftrag der JUNGEN FREIHEIT. Für entsprechende Signale wären vor allem bisherige Anhänger der Unionsparteien empfänglich. Die, ganz nebenbei, seit rund zehn Jahren bei den Arbeitern in absoluten Zahlen vor der SPD liegen. Darauf „zu schielen“ ist womöglich weniger „ominös“ als auf die vermeintliche Legion der Nichtwähler.