„Leon ist verschwunden. Der zurückhaltende Schüler ist scheinbar ohne Spuren zu hinterlassen von Zuhause ausgerissen. Freunde, Familie und die Polizei sind verunsichert: Konnte man es kommen sehen? Gab es Zeichen, die keiner von ihnen bemerkt hat?“ – Und, bekommen Sie jetzt nicht auch Lust auf ein bißchen Detektivarbeit?
„Leons Identität –Ein exploratives Abenteuer“ wurde am Freitag vom Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen und der Staatskanzlei vorgestellt. Das Videospiel, dessen Entwicklung und Produktion rund 225.000 Euro kostete, soll Kinder und Jugendliche ab zwölf Jahren „über extremistische Einflüsse im Internet aufklären, ihre Medienkompetenz stärken und nicht zuletzt Spaß machen“, erklärte Innenminister Herbert Reul (CDU).
Der Spieler schlüpft dazu in dem Minispiel mit dem großen Finanzbedarf in die Rolle von Jonas, dem 15 Jahre alten Bruder von Leon. Wie ein richtiger Detektiv durchkämmt er das Zimmer des Jugendlichen und stößt auf zahlreiche Hinweise für die schleichende Radikalisierung des älteren Bruders. Wer stereotype Bilder von Extremisten im Kopf hat, dem fällt sofort auf, daß Leon kein typischer Extremist ist.
Mitmachen statt bloßem Voyeurismus
Bereits 2016 hatten sich die Arbeitsstelle Rechtsextremismus und Gewalt (ARUG) aus Braunschweig und das Zentrum Demokratische Bildung (ZDB) in Wolfsburg die Mühe gemacht, das Zimmer eines „szenetypischen Neonazis“ möglichst originalgetreu nachzustellen. Damals mußte sich der geneigte Voyeur jedoch noch mit dem Betrachten begnügen. Das neue Spiel des Innenministeriums ermöglicht endlich auch die Interaktion.
Und auch optisch ist Leons Zimmer ansprechender. Es wirkt sauber und verhältnismäßig ordentlich. Den dunklen Grau- und Brauntönen des „Neonazizimmers“ stehen helle Dielen, hölzerne Balken und moderne Möbel entgegen. Der Raum ist lichtdurchflutet. Es ist viel Platz, Leon hat offensichtlich Stil.
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Ob die Videoecke und der Boxsack mit dem stilisierten Helm der Spartaner darauf dann bereits seine rechtsextreme Gesinnung erahnen lassen sollen, bleibt offen. Hobbydetektiv Jonas findet jedenfalls den veränderten Musikgeschmack des Bruders auffällig. Bücher wie „Der große Austausch“, das im Original vom französischen Philosophen Renaud Camus verfaßt wurde, finden sich bei der Suche ebenso wie ein Heft mit dem Namen Popoli. „Öko-Diktatur? Gender-Gaga?“ titelt es und soll, so die Erklärung der Macher, an das rechte Jugendmagazin Arcadi erinnern.
In der Mitte des Raums findet sich ein Aufkleber mit dem Symbol der „Atavistischen Aktion“, die im Spiel „in verfremdeter Form Handlungsformen und Narrativen der Identitären Bewegung“ übernimmt. Dort, wo Jonas auf Meinungen in sozialen Netzwerken, Events und Symboliken stößt, kann der kleine Detektiv die nachgestellte Radikalisierung seines Bruders erkennen.
Das neue Klischee
Nachdem der klassische Neonazi in der Öffentlichkeit nur noch sehr selten angetroffen wird, soll nun offensichtlich der neue Rechtsextreme in den Köpfen der Jugend verfestigt werden. So, liebe Kinder, wie Leon, sollt ihr bitte nicht sein. Sympathisches Rüberkommen und ein gepflegtes Erscheinungsbild können da schon einmal verdächtig werden. Wer überdies noch internationale Literatur im Regal stehen hat, Deutschland liebt und neuerdings Kampfsport betreibt, der ist eindeutig rechtsradikal.
Das Spiel selbst kommt mit seinem offensichtlichen Bildungsauftrag und den schlecht kopierten Symbolen und Klischees der Identitären Bewegung rüber, als hätten „Rechtsextremismusexperten“ der Amadeo-Antonio-Stiftung bei der Entwicklung Regieanweisungen gegeben. Spannung erzeugt „Leons Identität –Ein exploratives Abenteuer“ dabei etwas weniger als die Lern-CD auf dem uralt-Rechner im Klassenzimmer der Grundschule.