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Hundert Tage Gauck: Die Sphinx von Bellevue

Hundert Tage Gauck: Die Sphinx von Bellevue

Hundert Tage Gauck: Die Sphinx von Bellevue

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Hundert Tage Gauck
 

Die Sphinx von Bellevue

Der Bundespräsident hat Freunde wie Gegner gleichermaßen überrascht. Mancher, der hohe Erwartungen in ihn setzte, wurde bisher enttäuscht. Die Kraft, besser zu werden, ist ihm zuzutrauen.
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Joachim Gauck: Er ist Präsident Foto: Sebastian Hillig/Wikimedia Lizenz: bit.ly/cwyzYr

Bundespräsident Joachim Gauck hat kurz vor Beginn des Weltwirtschaftsgipfels in Mexiko vor einem „Diktat der Märkte“ gewarnt. Es ist das erste Mal, daß er sich dezidiert zur Dominanz der Ökonomie über die Politik äußert. In derselben Rede würdigte er den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR. Die Koinzidenz ist bemerkenswert. Nach knapp hundert Tagen im Amt schwant Gauck, daß er vor unerwarteten Bewährungsproben steht. Die Probleme, die herandrängen, sind zu kompliziert und widersprüchlich, um von einer manichäischen Rhetorik erfaßt zu werden.

Seit seinem Amtsantritt im April haben die Ereignisse sich nochmals rasant beschleunigt. Schwerverständliche Begriffe wie ESM und EFSF, Horrormeldungen über Geld-, Bürgschafts- und Haftungsforderungen durch unsere sogenannten europäischen Freunde fliegen wie Wurfgeschosse durch den öffentlichen Raum. Gauck muß sich sputen und das große Lied von der Freiheit, das er als Leitmotiv über seine Präsidentschaft gestellt hat, neu intonieren. Sonst wird es als ein fader Abgesang auf ein finanziell ausgeplündertes und politisch abgewickeltes Deutschland in die Geschichte eingehen. Seine von großen Erwartungen begleitete Präsidentschaft wird dann als ein Illusionstrick verbucht werden.

Bedrohung der Freiheit

Die „Freiheit“ ist heute nicht von sowjetischen Besatzungstruppen, nicht von der Stasi, nicht von vermeintlichen oder tatsächlichen Rechtsextremisten oder Ausländerfeinden bedroht. Die echte Bedrohung von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit wird in den Innereien jenes systemischen Mechanismus generiert, dem Gauck vorsteht. Was er eben noch als Gegenbild zum sozialistischen Regime euphorisch feierte, entwickelt sich zu einem geschlossenen System der Entmündigung, Enteignung, Überwachung, der Meinungs- und Verhaltenssteuerung.

Eine Übertreibung? Nun, der größte Teil der Gesetze wird gar nicht mehr vom gewählten Vertreter des Souveräns, dem Bundestag, sondern von der Bürokratie in Brüssel beschlossen. Der ESM-Vertrag läuft auf ein faktisches Ermächtigungsgesetz und auf eine organisierte Verantwortungslosigkeit hinaus. Beides müßte den Präsidenten an die DDR gemahnen. Für diese Sachlage hat er noch keine Worte gefunden. Die Perspektive des DDR-Bürgers, der jahrzehntelang eingesperrt war und sich über „Europa“ und die grenzenlose Reisefreiheit heute freut, reicht zur Lagebeschreibung endgültig nicht mehr aus.

Vertreter der politischen Klasse

Seine Äußerungen beim Antrittsbesuch in Brüssel im April waren enttäuschend. Sein Zusicherung, die Deutschen seien „uneingeschränkt“ einverstanden mit der Rettungspolitik und bereit zur „Solidarität“ mit der Euro-Zone, klang wie eine Verhöhnung von Entmündigten, die über ihre Bereitschaft nie befragt worden sind. Die Einlassung zur Verfassungsklage gegen den ESM-Vertrag: „Ich sehe nicht, daß die Bereitschaft der Regierung konterkariert werden wird vom Bundesverfassungsgericht“, war eine Kompetenzüberschreitung und zugleich eine Positionsbestimmung, die ihn als Vertreter der politischen Klasse, nicht des Demos ausweist.

Sollte jemand die Hoffnung gehegt haben, der Bundespräsident würde die Unterschrift unter den Vertrag verweigern, so hat sie sich jetzt erledigt. Seine Rede über die „Angst“, die „kleine Augen“ mache, wirkte gänzlich deplaziert. Es geht in der Europa-Frage nicht um Launen und Befindlichkeiten, sondern um knallharte nationale Interessen, um unterschiedliche Mentalitäten und Leistungskraft. Der Begriff „Solidarität“ ist in diesem Kontext längst zum Instrument der moralischen Erpressung Deutschlands verkommen. Seine Aufforderung, „mehr Europa (zu) wagen“ (die auch in seiner Antrittsrede vorkam), klang in den Ohren des Staatsvolks, das eben noch seine Wahl einhellig begrüßt hatte, wie eine Drohung.

Nicht zu beneiden

Von einer schlichten Schelte gegen die Banken und Märkte aber wird es sich nicht umstimmen lassen. Schließlich war es die Politik, die den Euro und damit das Desaster herbeigeführt hat, das daraus folgte. Es waren die Staaten und die Privatpersonen, die sich bei den Banken verschuldet haben. Zur Erinnerung: Noch vor zwei Jahren haben Politiker die Banken gedrängt, keine griechischen Staatsanleihen abzustoßen.

Joachim Gauck ist nicht zu beneiden. Mit 72 Jahren, einem Alter, in dem andere ihre Lebensbilanz ziehen und sich allmählich damit abfinden, mit ihren Haltungen, Einstellungen, Überzeugungen einen gesellschaftlichen Anachronismus zu verkörpern, muß er Antworten auf eine neue Lage finden, die das Staatsvolk überzeugen und sogar begeistern.

Gauck ist lernfähig

Doch Gauck ist lernfähig und in der Lage, die gegenwärtige Phase der Desorientierung zu überwinden. Den Mut zur Einmischung hat er mit seiner Kritik an den Umständen der Energiewende und der drohenden „Planwirtschaft“ bereits bewiesen. Ein SPD-Politiker zieh ihn daraufhin der „Ost-Mentalität“. Nun, soweit zu dieser Ost-Mentalität die aus der DDR-Erfahrung gespeiste Überzeugung gehört, daß niemals wieder eine ideologisch durchtränkte Politik die Richtlinien der Wirtschaft bestimmen darf, ist sie nur zu begrüßen.

Gründlicher als auf den Brüssel-Ausflug hatte Gauck sich auf die Reise nach Israel vorbereitet. Seinem Auftritt dort sah man um so gespannter entgegen, weil er in seiner Antrittsrede vor dem Bundestag den Kotau vor dem Achtundsechziger-Mythos vollzogen und die Floskeln von der unbewältigten Vergangenheit wiederholt hatte. Niemand konnte erwarten, daß der Bundespräsident in Israel seine Bedenken wegen der zielgerichteten Sakralisierung des Holocaust wiederholt. Er hat es jedoch gewagt, die törichte Bemerkung der Kanzlerin, das Existenzrecht Israels sei Teil der deutschen Staatsräson, zurechtzustutzen und zu relativieren. Er wolle sich kein „Kriegsszenario“ vorstellen, sagte der Bundespräsident und fügte hinzu, ihre Formulierung könne die Kanzlerin gegebenenfalls in „enorme Schwierigkeiten“ bringen.

Für einen kurzen Moment hatte der Präsident – in seiner Eigenschaft als Mann des sorgsam abgewogenen Wortes – die Kanzlerin als streberhafte und situativ taktierende Opportunistin demaskiert. Eine Rolle dürfte auch spielen, daß es sich bei Joachim Gauck um einen vierfachen Vater und inzwischen auch Urgroßvater handelt. Die Verantwortung für die jüngeren Generationen, die den von Merkel avisierten Ernstfall ausfechten müßten, stellt für ihn – anders als für die kinderlose Karrierefrau – etwas Konkret-Familiäres dar.

Als regimekritischer Pfarrer hatte er in der DDR auch Wehrdienstverweigerer betreut. Heute fordert er die Gesellschaft auf, die Bundeswehr in die Mitte zu nehmen und würdigt die Soldaten als die wahren „Mutbürger“. Sein Reden und Handeln damals und heute bilden keinen Widerspruch. Wer in der DDR den Dienst an der Waffe verweigerte, bekundete damit eine Haltung, für die er mit harten Konsequenzen einstehen mußte. Gleiches gilt heute für die Soldaten, die auf Auslandseinsätze geschickt werden. Gauck ist kein Pazifist, sondern er versucht, eine Position als Verantwortungsethiker einzunehmen. Damit ist er meilenweit entfernt von den ungedienten Selbstverwirklichern in Politik und Medien, die schnell bereit sind, Bundeswehrsoldaten als Kanonenfutter zu empfehlen, um ihre hypermoralistischen Affekte zu befriedigen.

Ein neues Reich der Lügen

Seine Äußerungen zum Thema Islam sind vorsichtig, aber bestimmt. Die Behauptung seines törichten Vorgängers, der Islam gehöre zu Deutschland – die auf eine Einflüsterung eines linken Journalisten zurückgeht –, hat er korrigiert: Die hier lebenden Moslems, nicht aber ihre Religion gehörten dazu. In der Tat: Wo in der deutschen Kultur, Wissenschaft, in der ökonomischen oder Rechtsgeschichte hätte der Islam je eine prägende Rolle gespielt? Die Impulse, die gegenwärtig von ihm ausgehen, laden auch keineswegs dazu ein, sie ihm künftig zuzubilligen.

In der Bezeichnung Thilo Sarrazins durch die kurdischstämmige Journalistin Mely Kiyak als „lispelnde, stotternde, zuckende Menschenkarikatur“ jedenfalls werden die neuen Konflikte und Bruchlinien erkennbar. Die verbale Entmenschlichung des Gegners deutet an, wie man mit ihm umzugehen gedenkt, wenn man erst die physische Macht dazu hat. Was bestimmte Zuwanderer und ihre Wortführer Sarrazin stellvertretend übelnehmen, ist sein Hinweis auf die schleichende Umverteilung des Volksvermögens durch Sozialtransfers. Ihr empirischer Nachweis soll unterbunden werden, damit er desto effektiver fortgeführt werden kann. Das aber würde bedeuten, ein neues Reich der Lüge aufzurichten, vergleichbar dem in der DDR. Ein Herzensthema für den Bundespräsidenten also.

Er kann besser werden

Was er außerdem sagen müßte: Wir haben es mit einem Verteilungskonflikt zu tun, der sich entlang von ethnischen und religiösen Trennlinien formiert. Den aktiven Part haben rasch wachsende, aber unterdurchschnittlich produktive Bevölkerungsgruppen inne, die eine Teilhabe am allgemeinen Wohlstand durch Umverteilung verlangen. In der Rolle des Attackierten befindet sich die angestammte, alternde Mehrheitsbevölkerung, die natürlicherweise wenig Interesse daran hat, ihr hart erarbeitetes Lebensniveau abzusenken.

Der Bundespräsident würde sich um das Land verdient machen, wenn er vorsichtige, aber deutliche Worte für diesen innenpolitischen Großkonflikt fände. Seine ersten 100 Tage im Amt waren durchwachsen. Die Kraft, darin besser zu werden, kann man ihm zutrauen.

Der Bundespräsident hat’s gesagt:

„Die Verdrängung eigener Schuld, die fehlende Empathie mit den Opfern des Nazi-Regimes prägte den damaligen Zeitgeist. Erst die 68er-Generation hat das nachhaltig geändert. Damals war meine Generation konfrontiert mit dem tiefschwarzen Loch der deutschen Geschichte, als die Generation unserer Eltern sich mit Hybris, Mord und Krieg gegen unsere Nachbarn im Inneren und im Äußeren vergingen. Es bleibt das Verdienst dieser Generation: Es war ein mühsam errungener Segen. Trotz aller Irrwege, die sich mit dem Aufbegehren der 68er verbanden, hat sie die historische Schuld ins kollektive Bewußtsein gerückt.“ Antrittsrede am 23. März 2012 im Bundestag

„Die Energiewende wird uns nicht gelingen allein mit planwirtschaftlichen Verordnungen. Wohl auch nicht mit einem Übermaß an Subventionen. Es kann uns aber gelingen mit überzeugenden Innovationen und im fairen Wettbewerb. Ich bin überzeugt: Es gibt keinen besseren Nährboden für unsere Ideen und Problemlösungen als unsere offene Gesellschaft mit offenen Märkten und freiem und fairem Wettbewerb.“ Eröffnung der „Woche der Umwelt“ am 5. Juni 2012 in Berlin

„Freiheit und Wohlergehen sehen viele als Bringschuld der Demokratie und des Staates. Manche verwechseln dabei aber Freiheit mit Gedankenlosigkeit, Gleichgültigkeit oder auch Hedonismus. Andere sind wiederum sehr gut darin, ihre Rechte wahrzunehmen oder gegebenenfalls sie auch vehement einzufordern. Und vergessen dabei allzugern, daß eine funktionierende Demokratie auch Einsatz fordert, Aufmerksamkeit, Mut, und eben manchmal auch das Äußerste, was ein Mensch geben kann: das Leben, das eigene Leben. (…) Hier, in der Bundeswehr, treffe ich überall auf Menschen mit der Bereitschaft, sich für etwas einzusetzen – gewissermaßen treffe ich auf ‘Mut-Bürger in Uniform’!“ Antrittsbesuch bei der Bundeswehr am 12. Juni 2012 in Hamburg

JF 26/12

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