LONDON. Die Entscheidung des britischen Parlaments schlägt hohe Wellen. Mit einer großen Mehrheit hat das Unterhaus beschlossen, daß Abtreibungen in England und Wales auch nach der 24. Schwangerschaftswoche nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden sollen. Frauen, die ihre ungeborenen Kinder in dieser späten Phase der Schwangerschaft abtreiben, haben keine polizeilichen Ermittlungen, keine Anklage und keine Strafe mehr zu befürchten. Damit werden Spätabtreibungen auch nach mehr als sechs Monaten Schwangerschaft faktisch legal.
Das Parlament hatte am Dienstagnachmittag nach nur kurzer Debatte von weniger als einer Stunde und mit sehr großer Mehrheit von 379 gegen 137 Stimmen für die Gesetzesänderung auf Antrag der Abgeordneten Tonia Antoniazzi gestimmt. Die Ja-Stimmen kamen vor allem von der regierenden Labour-Partei und den Liberaldemokraten. Die Abgeordneten der oppositionellen Konservativen Partei stimmten fast geschlossen (bei wenigen Abweichlern) dagegen, ebenso vier Abgeordnete der Reform-Partei.
Kritikerinnen: „Das ist barbarisch“ und „Mord“
Während die Befürworter von einem großen Schritt nach vorne für Frauen in einer schwierigen Lage sprechen, warnen Konservative und Lebensrechtler vor einem Dammbruch. Die Society for the Protection of Unborn Children (Gesellschaft für den Schutz ungeborener Kinder) nannte das Abstimmungsergebnis „schrecklich“.
„Wenn diese Klausel als Gesetz in Kraft tritt, dann wird eine Frau, die ihr Baby abtreibt, zu welchem Zeitpunkt auch immer und sogar bis wenige Momente vor der Geburt, nicht mehr eine Straftat begehen“, sagte Alithea Williams, eine Vertreterin der Lebensschutzbewegung. Der große Abtreibungspraxiskonzern BPAS (British Pregnancy Advisory Service) sprach dagegen von einem großartigen Erfolg. „Das ist ein harterkämpfter Sieg und wir danken allen, die mit uns dafür gekämpft haben“, schrieb BPAS.
Die frühere konservative Abgeordnete Miriam Cates nannte die Abstimmung zur Legalisierung von Spätabreibungen schockierend. Es sei „barbarisch“, daß in Zukunft ungeborene Kinder auch nach der 24. Schwangerschaftswoche straffrei getötet werden dürften. Eine Mutter dürfe nicht entscheiden, ihr Kind „nach neun Monaten oder sogar noch während der Geburt“ zu töten, sagte sie gegenüber dem TV-Sender GB News. Einzelne konservative Kommentatoren wie die Journalistin Julia Hartley-Brewer nannten es Mord, ein ungeborenes Kind in dieser Schwangerschaftsphase zu töten.
Fast 30 Prozent aller Schwangerschaften werden abgetrieben
Die Gruppe der engagierten Abtreibungsgegner ist in Großbritannien indes nur sehr klein. Laut Umfragen ist eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung „pro Choice“ eingestellt, also für die Abtreibungswahlmöglichkeit. Großbritannien hat eine der höchsten Abtreibungsraten in Westeuropa. Auf weniger als 600.000 Lebendgeburten im Jahr 2023 kamen mehr als 250.000 Schwangerschaftsabbrüche – das waren fast 30 Prozent aller Schwangerschaften.
Bislang ist nach dem geltenden Recht eine Abtreibung in England in den ersten 24. Schwangerschaftswochen straffrei oder sogar später, wenn zwei Ärzte einen medizinischen Grund dafür bestätigen, etwa weil das Leben der Mutter gefährdet ist. Der Abortion Act von 1967 ersetzte das aus viktorianischer Zeit stammende Gesetz „Offences Against the Person Act 1861“. Nach diesem waren Abtreibungen immer strafbar.
Einzelne Fälle von Spätabtreibungen vor Gericht
Spätabtreibungen machen nur einen kleinen Teil der Masse der Schwangerschaftsabbrüche aus. Es gab in den vergangenen Jahren aber mehrere Fälle von Frauen, die nach der 24. Schwangerschaftswoche mit einer Abtreibungspille ihre Kinder abgetrieben haben. Eine Frau wurde zu einer Haftstrafe verurteilt, weil sie ihr Kind in der 34. Schwangerschaftswoche zu Hause mit dem Abtreibungsmittel Mifegyne abgetrieben hatte.
Künftig würde sie nicht mehr belangt. Ärztliches Personal darf aber auch nach dem neuen Gesetz nur in Ausnahmefällen bei Abtreibungen nach der 24. Woche mitwirken.
Kritik auch von deutschen Lebensschützern
Die Bundesvorsitzende der deutschen Aktion Lebensrecht für Alle, Cornelia Kaminski, teilte zu der Abstimmung im Unterhaus am Mittwoch mit: „Seit 1967 sind Abtreibungen in England legal, zunächst bis zur 28. Schwangerschaftswoche, seit 1990 bis zur 24. Schwangerschaftswoche. Damit ist die Insel ein Vorreiter in Bezug auf vorgeburtliche Kindstötungen und angesichts der laxen Regelungen auch ein Spitzenreiter: 2022 wurden dort 251.377 Kinder abgetrieben, 17 Prozent mehr als im Vorjahr.“
Die Zahl der Abtreibungen sei im Vereinigten Königreich in die Höhe geschnellt, seit dort die Abtreibungspillen nicht mehr in einer Arztpraxis eingenommen werden müssen, sondern zu Hause genommen werden können. Diese ursprünglich nur während der Corona-Pandemie geltende Regelung wurde für dauerhaft erklärt. „Dem Mißbrauch wurde damit Tür und Tor geöffnet“, kritisierte Kaminski.
Kritik an Abtreibungslobby
„Seit 2020 sind sechs Frauen angeklagt worden, die mittels Abtreibungspille zu Hause ihre ungeborenen Kinder getötet haben, ohne die rechtlichen Vorgaben zu beachten: Entweder trieben sie Kinder jenseits der 24. Woche ab oder jenseits der 10-Wochen-Frist, die für chemische Abtreibungen vorgesehen ist. Eine Frau wurde verurteilt, weil sie während der Pandemie ihr ungeborenes Kind um die 34. Schwangerschaftswoche herum mittels Mifegyne abgetrieben hat, was mit erheblichen gesundheitlichen Risiken für die Schwangere verbunden ist.“
Keiner dieser Fälle wäre vor Gericht gelandet, wenn diese chemischen Abtreibungen wie früher üblich unter ärztlicher Aufsicht stattgefunden hätten, unterstrich Kaminski. „Die Abtreibungslobby hat damit die Einzelfälle selbst produziert, die sie nun genutzt hat, um vorgeburtliche Kindstötungen grundsätzlich zu legalisieren.“
„Die Tötung menschlichen Lebens wird akzeptiert“
Weiter kritisierte sie: „Wenn Abtreibungen legalisiert werden, wird das Unrechtsbewußtsein zerstört. Die Tötung menschlichen Lebens wird akzeptiert.“ Sie kritisierte auch die am Freitag in London anstehende Abstimmung über ein Gesetz zum assistierten Suizid in England. „Die radikale Ideologie, die diese Bestrebungen fördert, kennt keine Grenzen und wird auch vor Deutschland nicht haltmachen, wenn Politik und Gesellschaft sich dem nicht entschieden widersetzen.“
In Deutschland waren kurz vor der Bundestagswahl Abtreibungsbefürworter aus SPD, Grünen und FDP mit dem Vorhaben gescheitert, Schwangerschaftsabbrüche bis einschließlich der zwölften Schwangerschaftswoche grundsätzlich zu legalisieren. Abtreibungen sind in Deutschland nach Artikel 218 StGB strafbar, sie bleiben aber straffrei, wenn sie nach einer Beratung mit einem Beratungsschein vorgenommen werden.
Laut Statistischem Bundesamt wurden in Deutschland im vergangenen Jahr rund 106.000 Schwangerschaftsabbrüche und 677.000 Lebendgeburten gemeldet. Die Abtreibungsquote beträgt damit laut offizieller Statistik rund 15 Prozent. (JS)