Als der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Abend des 23. Februar ins Bett ging, wußte er offensichtlich nicht, daß er tatsächlich in einer neuen Welt aufwachen würde. Er hatte in den Wochen zuvor, trotz hinreichender Anzeichen für einen bevorstehenden Großangriff Rußlands, keine Generalmobilmachung angeordnet und auf die Einberufung von Reservisten im großen Stil verzichtet. Wie viele auch, darunter etliche Experten aus Militär und Politik, hatte er die Lage falsch eingeschätzt und gehofft, durch Deeskalation einen Krieg vermeiden zu können. Stattdessen startete Wladimir Putin von seinem Bunker im Ural aus den größten Landkrieg, den Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs gesehen hat.
In den ersten zwölf Stunden des Krieges schien der Angriff Russlands nach Plan zu verlaufen. Gelenkte Bomben und Präzisionswaffen zerstörten im Vorfeld ausgekundschaftete Ziele in der Ukraine wie Waffendepots, Flugabwehrstellungen und Militärflughäfen. Binnen kürzester Zeit hatten russische Luftlandetruppen den Flughafen bei Hostomel nahe Kiew eingenommen, von dem aus eine Luftbrücke in die ukrainische Hauptstadt eingerichtet werden konnte. Der Widerstand der Ukrainer brach an der Krim-Front zusammen und erlaubte Panzerspitzen der Russen den Vorstoß über weite Flächen des Landes bis an den Fluss Dnepr.
Doch bereits am zweiten Tag des Krieges zeigten sich zunehmend die Probleme, mit denen die russischen Streitkräfte zu kämpfen hatten. Treibstoffmangel, poröses Reifengummi bei den Fahrzeugen, Koordinations- und Kommunikationsschwierigkeiten der Truppenteile und der Mangel an Kampfmoral bei den einfachen Soldaten, verlangsamten den Vormarsch. Erschwerend kam hinzu, daß die Ukrainer nach dem anfänglichen Schock ihre Reihen schließen und eine beachtliche und effiziente Verteidigung etablieren konnten.
Moskau leistet sich strategische Fehleinschätzungen
Der Einsatz moderner Javelin-Waffensysteme und die Tatsache, daß die ukrainische Luftwaffe und Luftabwehr nicht vollständig zerstört waren, sorgten für empfindliche Verluste bei den russischen Truppen. Überall kam es zur Erlahmung der russischen Aktionen. Die mediale Flut an Bildern von demotivierten russischen Wehrpflichtigen, aufgegebenen Panzern und brennenden Kolonnen der Eroberer, dürften nicht zum Plan Putins und seiner Berater gehört haben.
In knapp zwei Wochen haben sich die russischen Streitkräfte selbst entzaubert. Von der angeblich hoch gerüsteten Hightech-Armee, die es laut eigener Darstellung mit den Nato-Staaten in einem konventionellen Krieg aufnehmen könne, bleibt nicht viel. Was an Hightech vorhanden war, wurde größtenteils in den ersten Kriegsstunden eingesetzt und bereits verloren. Was bleibt, ist die alte, russische Dampfwalze, die sich jetzt wie in Tschetschenien daran macht, Städte einzukreisen und zu „magdeburgisieren“; ein Begriff an Anlehnung an die Zerstörung der mitteldeutschen Stadt im 30jährigen Krieg.
Mittlerweile scheint offensichtlich, daß im Kreml eine völlige Fehleinschätzung der ukrainischen Armee vorgelegen haben muß. Die ersten Kriegsstunden und der Einsatz der Fallschirmjäger sprechen dafür, daß Putin darauf abzielte, die Ukraine in einem „Blitzkrieg“ im Handstreich zu nehmen. Ähnlich, wie es ihm auf der Krim 2014 gelungen war. Man ging davon aus, die ukrainische Armee beim ersten Feindkontakt mit den überlegenen russischen Streitkräften in die Flucht zu schlagen.
Putin treibt die Anrainer unter Washingtons Schutzschild
Russische Spezialkräfte hätten dann Selenskyj und die ukrainische Führung festnehmen oder töten können, was die Auflösungsprozesse der Ukrainer beschleunigt und einen Vormarsch Rußlands bis nach Lemberg in wenigen Tagen möglich gemacht hätte. Daß heute die Russen in genau jenem Schlamm stecken bleiben, in dem auch die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg liegen blieb, ist eine Ironie der Geschichte. Ähnlich verblüffend ist, daß man in Moskau den Gegner ähnlich geringgeschätzt hat, wie einst die Deutschen im letzten großen Krieg ihre östlichen Nachbarn.
Putin hat den Ukrainern in seiner verqueren Geschichtsunkenntnis ihre Staatlichkeit und ihr Existenzrecht als eigenes Volk abgesprochen. Er ist augenscheinlich überzeugt davon, es sei Rußlands Mission, das Brudervolk der Ukrainer zu „befreien“. Daß die Ukrainer sich ihren „Befreiern“ widersetzen und die russischen Soldaten nicht mit Blumen, sondern mit Raketen und Kugeln empfangen würden, war in Moskau nicht in diesem Maße einkalkuliert worden.
Die slawischen und baltischen Staaten, die jahrhundertelang unter dem Einfluß Rußlands viel zu erdulden hatten, sind in ihrer skeptischen Haltung gegenüber Moskau bestätigt worden. Selbst die Finnen, die um ein gutes Verhältnis zu Russland stets bemüht waren, sprechen sich nun mehrheitlich für einen Beitritt zur Nato aus.
Mit dem Angriff auf die Ukraine hat Putin die fragwürdige Nato-Osterweiterung nicht aufgehalten, sondern die Länder rund um Rußland herum ermutigt, sich so schnell wie möglich unter den Schutzschild Washingtons zu stellen – mit allen politischen, kulturellen und militärischen Konsequenzen.