Es gibt Bücher, die wirken unscheinbar, aber sie haben es in sich. „Die Fluten des Pruth“ gehört dazu. Der Titel wirft ohne Lektüre zunächst Fragezeichen auf, die Marschrichtung ist nicht erkennbar. Auch der Zusatz wabert dahin: „Deutschland vor unbekannten Herausforderungen.“ Damit assoziiert der Leser alles mögliche, es gibt zuhauf ähnlich klingende Schriften. In diesem Fall täuscht der erste Eindruck jedoch gewaltig.
Jochen Thies widmet sich wie ein Arzt dem Patienten Deutschland. Die Anamnese wird mit privaten Geschichten ausgeschmückt, anschließend folgen mehrere Diagnosen, die sich mit einem Satz zusammenfassen lassen: Die Bundesrepublik befinde sich in der „Nähe zum Abgrund“. Dafür seien zwei Entwicklungen verantwortlich, die Berlin noch lange beschäftigen würden: die Implikationen des Krieges in Osteuropa sowie eine durch Masseneinwanderung verschärfte Verschlechterung des Bildungswesens. Beides hänge miteinander zusammen, das Ergebnis könnte eine „Identitätskrise für Deutschland“ sein.
Der Autor, Jahrgang 1944, blickt auf ein Leben voller Erfahrungen zurück. Er ist innen- wie außenpolitisch bewandert und mit einem scharfen Blick für das Zentrum der Macht ausgestattet, in dem er selbst als stellvertretender Leiter der Redenschreibergruppe von Bundeskanzler Helmut Schmidt einige Zeit gearbeitet hatte. Vor diesem Hintergrund bewertet und hierarchisiert er jene Probleme, mit denen sich Deutschland auseinanderzusetzen hat. Interessanterweise steht die Klimakrise für ihn nicht auf Platz eins der Agenda. Er sieht größere Herausforderungen.
Eine „undurchlässige Barrikade zwischen Vergangenheit und Zukunft“
So wird in der Außen- und Sicherheitspolitik eine gewisse Blauäugigkeit festgestellt. Seit der Zeit Hans-Dietrich Genschers gehe man „von den günstigsten Annahmen aus“. Dabei hätten die Entscheidungsträger verlernt, auf sich ankündigende Veränderungen rechtzeitig angemessen zu reagieren. Es fehle die Bereitschaft zur Tat. Der einstige Leiter des Ressorts Außenpolitik der Tageszeitung Die Welt zitiert dazu Helmut Schmidt, der ehemals in kleiner Runde gefragt habe, was im Falle eines Luftangriffs auf das Parlament geschehen würde. Seine Antwort: „Nichts würde passieren, nichts.“
Thies bringt dazu vergleichsweise die Haltung der Briten ins Spiel. Sie „waren und sind die einzige europäische Macht, die erkennbar mit historischem Bewußtsein handelt“. Hier schimmert Sympathie des Autors durch, der ähnlich klare Positionierungen in Deutschland vermißt. Dies hänge auch mit der Last der Geschichte zusammen. Das „Dritte Reich“ liege „wie eine undurchlässige Barrikade zwischen Vergangenheit und Zukunft“. Der Text ist dann durchaus so zu verstehen, daß der Autor dafür auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier verantwortlich macht, der „fortlaufend Bußpredigten“ halte.
Im Buch wird etwas ketzerisch gefragt, ob Deutschland wirklich glaube, Einwanderung besser als alle anderen Staaten bewältigen zu können. Dem üblichen Argument, mehr Migration aus Gründen des ökonomischen Bedarfs zu benötigen, hält Thies entgegen: „Warum darf sie [die Gesellschaft, M.W.] nicht schrumpfen und sich dem Niveau der Briten, Franzosen und Italiener annähern und sich die Industrie entsprechend ausrichten?“
Politische Korrektheit ist dem Text fremd
Die Folgen der Zuwanderung werden aus verschiedenen Perspektiven reflektiert, etwa der des Lehrerberufs: „Wer soll in Klassen, in denen 90 Prozent der Kinder einen Migrationshintergrund haben, 35 Jahre durchhalten?“ Politische Korrektheit ist dem Text fremd – etwa dort, wo sich der Autor über die „Fülle von TV-Reklamespots mit Migranten- und Adoptivkindern, die in letzter Zeit urplötzlich einsetzte“, mokiert.
Zu den Folgen der verfehlten Zuwanderungspolitik gehöre eine Aufstockung des Sicherheitspersonals. Thies sieht klare Zusammenhänge: „Gibt es neue Probleme, wird zusätzliches Wachpersonal eingestellt, eine Art von Sozialstaats-Armee bildet sich heraus.“ Er verweist dazu auf das gestiegene Risiko von Polizisten, wenn sie auf Streife Migranten kontrollieren.
Auch die Sicherheitslage der Frauen habe sich verschlechtert. Wichtig sei daher, eine „offene, ehrliche Debatte über Kollateralschäden der Einwanderung“ zu führen.
Fehlendes bürgerliches Selbstbewußtsein
Was die vielen, oft kursorisch gestalteten Ausflüge in Vergangenheit und Gegenwart Deutschlands verbindet, ist die Sorge um die Zukunft der res publica. Wer übernimmt die Verantwortung? Von wem kann erwartet werden, die Bundesrepublik sicher durch die kommenden Jahre zu führen? Thies mißtraut der politischen Klasse. Sein Blick auf die Mitte der Gesellschaft ist ebenfalls eher düster: „Bis heute fehlt dem deutschen Bürgertum Selbstbewußtsein gegenüber dem Staat.“
Desgleichen betrachtet er die Journalisten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in ihrer Rolle als „Volkserzieher“ kritisch. Letztlich ist nicht erkennbar, wer das Kreuz tragen kann. Aber die Dimension des Reformbedarfs in Deutschland wird benannt. Ein solches Vorhaben dürfe „den Vergleich mit den Stein/Hardenbergschen Reformen des 19. Jahrhunderts nicht scheuen“.
Die erneute Teilung des Landes
Der Text gewinnt dadurch an Glaubwürdigkeit, daß er sich nicht einem politischen Lager zuordnen läßt. Einerseits macht der Autor keinen Hehl aus seiner Antipathie gegenüber der AfD. Andererseits fällt das Urteil über die Amtszeit von Angela Merkel vernichtend aus. Sie sei „hochmütig“ und zeige „wenig Einsicht, daß ihre Kanzlerschaft in einer energie- und sicherheitspolitischen Katastrophe geendet ist“. Mit erheblichen Folgen: „Merkel hat entgegen ihren Absichten das Land erneut geteilt.“
In der Summe trifft die Diagnose des Buches ins Schwarze, nur die Vorschläge zur Therapie überzeugen nicht durchgehend. Die Hoffnung, daß umfassende Integration angesichts einer rasant wachsenden Zuwanderung auf breiter Front doch noch irgendwie gelingen könnte, dürfte trügen. Dem Genuß an der Lektüre tut dies keinen Abbruch. Thies gönnt sich einen unabhängigen Blick auf die deutsche Innen- und Außenpolitik. Und er landet dabei einen Treffer nach dem anderen.