Jean Raspails Roman „Das Heerlager der Heiligen“ ist das gültige Buch zur Gegenwart, und die Tatsache, daß es bereits vor mehr als vierzig Jahren geschrieben wurde, macht seine Wirkung noch schauerlicher. Eine erste deutsche Übersetzung erschien 1985, für die aber Kürzungen am Ursprungstext vorgenommen wurden. Die vorliegende Neuübersetzung ist die erste vollständige Fassung in deutscher Sprache. Sie berücksichtigt auch die Streichungen und Erweiterungen, die Raspail, der vor wenigen Wochen 90 Jahre alt wurde, für eine dritte Auflage vorgenommen hatte.
Nach seinen Worten handelt es sich um einen „allegorischen Text“, der im Zeitraffertempo abspult, was seit Jahrzehnten in Eu-ropa stattfindet und sich jetzt rasant beschleunigt. Die Fabel ist einfach und geradlinig. Raspail: „Eines Nachts landen hundert Schiffe mit letzter Kraft an der Südküste unseres Landes, beladen mit einer Million Einwanderern. Vom Elend gezeichnete Armutsgestalten (…), angelockt vom Versprechen eines gelobten Landes, in dem Milch und Honig fließen. Sie sind extrem mitleiderregend. Sie sind schwach. Sie sind unbewaffnet. Ihre Stärke liegt in der Zahl.“
Der Autor denunziert die Ankömmlinge nicht, ihre Wünsche sind nachvollziehbar. Doch wie soll Frankreich auf die Invasion reagieren, zumal klar ist, daß die Million erst die Vorhut bildet? Darf man ihre Schiffe abdrängen, gar versenken? Oder muß man die Armen aufnehmen, ihre Landnahme dulden? Das wäre das Ende Frankreichs und der europäischen Zivilisation überhaupt. Die Frage lautet also: Wer wen? Die Antwort, die der Roman gibt, ist bekannt. Die qualvolle Agonie Europas zieht sich über spannende 400 Seiten hin.
Das Volk ist furchtsam, vernebelt, passiv
Im Staatspräsidenten bäumt sich noch einmal ein Überlebenswille auf, er scheint entschlossen, die Landung zu verhindern. Doch er hat alle gegen sich: die Minister, die Medien, die Kirchen, die Gewerkschaften, die Intellektuellen. Das Volk ist furchtsam, vernebelt, passiv. Nur eine winzige rechte Zeitung wagt auszusprechen, was Sache ist, sie wird aber im entscheidenden Moment durch einen Druckerstreik blockiert. In den anderen westlichen Staaten sieht es nicht besser aus. In der österlichen Ansprache, die die letzte Möglichkeit zu einer Kampfansage bietet, bricht der einsame Präsident moralisch zusammen.
Wie konnte es dahin kommen? Die Medien fokussieren sich auf die Frage, was die Regierung gegen das Elend auf den Schiffen zu tun gedenke und denunzieren das nationale Eigeninteresse als Verrat an der durch die Französische Revolution begründeten Menschenrechtstradition. Insbesondere ein Journalist maghrebinischer Herkunft hat eine Meisterschaft darin entwickelt. Die Kirche ist glaubensleer und weiß nicht, was sie noch verkünden soll. Da kommt ihr die Elendsflotte gerade recht.
„Dreitausendzweihundertsiebenundsechzig Pfarrer kritzeln in diesem Moment fieberhaft eine Predigt für den nächsten Tag …“ Für den Katholiken Raspail sind das Versagen der Kirche nach dem II. Vatikanischen Konzil und die Ökumene ein Kernstück des europäischen Dramas. Wenn die Wahrheit auch in den anderen Religionen zu finden ist, dann gibt es keinen Grund, die eigene, katholische zu verteidigen.
Der Buchtitel ist übrigens der Offenbarung des Johannes entnommen. Der aus dem Gefängnis losgelassene Satan verführt die Völker und versammelt sie zum Kampf: „Und sie stiegen herauf auf die Ebene der Erde und umringten das Heerlager der Heiligen und die geliebte Stadt.“
Eine einzige Lebenslüge
Auch die Schulen stimmen in den Chor der Humanitaristen ein: „In der gleichen Minute entdecken zweiunddreißigtausendsiebenhundertzweiundvierzig Lehrer das Aufsatzthema für den nächsten Tag:. ‘Beschreibt das Leben an Bord der unglücklichen Armada. Schreibt, was für Gefühle ihr für die unglücklichen Flüchtlinge hegt, wobei ihr zum Beispiel davon ausgeht, daß euch eine dieser verzweifelten Familien um Gastfreundschaft bittet.’“ Man kann sich leicht den sentimentalen Unsinn vorstellen, den die Kinderseelen produzieren und für den sie das Lob der Lehrer, aber auch der Eltern empfangen, die nicht zu widersprechen wagen, obwohl die Kleinen zu „unheilbaren Einfaltspinseln“ degenerieren.
Wie gesagt, geschrieben wurde das vor mehr als vierzig Jahren. Inzwischen sind aus den kleinen Einfaltspinseln längst große geworden, die selber als Lehrer, Theologen, Journalisten, Schauspieler arbeiten, die in zivilgesellschaftlichen Stiftungen tätig sind, mit vermeintlichem Expertenwissen die Meinungsbildung prägen und mit „Bunt statt braun“-Plakaten hantieren.
Der Vorzeige-Intellektuelle und Minister Jean Orelle, ein Schriftsteller, Nobelpreisträger, der als eloquenter Verfechter globaler Menschenrechte die nötigen Kabinettsbeschlüsse zu Fall brachte, bevor sie getroffen werden konnten, ein Bruder im Geiste von Sartre und Bernard-Henri Lévy, erweist sich in der Stunde der Wahrheit als Dandy, Maulheld und falscher Prophet. Seine Haltung und sein Einsatz für eine bessere, gerechtere Welt waren eine einzige Lebenslüge.
Im Grunde seines Herzens hatte er sich immer darauf verlassen, daß es niemals zum Schwur kommen, daß der Staat und das privilegierte Europa, gegen die er sich als Querdenker und moralische Instanz profiliert hatte, stabil und damit sein Treiben ohne Konsequenzen bleiben würden. Mit dem politischen Schwächeanfall des Präsidenten bricht seine innere Krücke weg, und er begreift, daß er und seinesgleichen Staat und Gesellschaft tatsächlich unterminiert haben. Nun trifft ein, was sie gefordert haben. Orelles schöner Landsitz in der Provence und die Welt, die er genossen hat, gehen dahin. Im Angesicht des Nichts erschießt er sich im Ministerbüro. Seine letzte Anweisung an den Rundfunk lautete, statt der Marseillaise Mozarts Requiem zu spielen.
„Strandgut der Vergangenheit“
Sein Tod wird kaum noch bemerkt, geschweige denn, daß er ein Umdenken auslöst. Noch radikalere Kräfte, ein regelrechtes Lumpenproletariat der Faust und der Stirn füllen das Vakuum, das der kollabierende Staat hinterläßt. „Wenn in einer Gesellschaft nichts mehr vernünftig funktioniert, öffnet sich eine wahre Pandorabüchse der Anomalien“, und ein „Karneval der debilen Gehirne, die sich von allen sozialen Fesseln befreit glauben“, hebt an. Ein junger Mann, der sich Panama Ranger nennt, eifert Che Guevara nach und bildet eine paramilitärische Gruppierung, während gleichzeitig die regulären Soldaten desertieren.
„Mit solchen zwanzigjährigen Erzengeln hat man einst Imperien errichtet und die Welt in Erstaunen versetzt. Heute benutzt man sie nur mehr zur Zerstörung, was niemanden außer uns selbst erstaunt.“ Die Erwartungen von Panama Ranger erfüllen sich ebenfalls in unvorhergesehener Weise.
Den letzten Verteidigern des Abendlandes bleibt nur noch die schöne Geste zum Abschied und der Ekel vor den Kapitulanten: „Sollen sie sich doch in ihrem Frieden wälzen wie die Ferkel.“ In späteren Jahren sieht man nur noch wenige Weiße. Sie befinden sich im heruntergekommenen Zustand, „ein paar wenige verlorene Seelen“, „Strandgut der Vergangenheit“, sie werden als „abschreckende Gegenbeispiele zur glorreichen universalen Rassenvermischung“ geduldet.
Europäische Selbstzerfleischung
Es fällt schwer, nach der Lektüre des beklemmenden Buches zurückzukehren zur Gegenwartsliteratur, die vor seinem Hintergrund fast durchweg belanglos erscheint. Wenigstens vier Lehren lassen sich aus ihm ziehen. Erstens: Deutschland bildet mit seiner Lust am Nationalmasochismus nur die Avantgarde der europäischen Selbstzerfleischung.
Zweitens: Die europäische Tragödie macht die Interessenkonflikte zwischen den Nationalstaaten und ihre oft konträren Mythen nicht gegenstandslos, aber sie sind sekundär und die Nationalismen anachronistisch.
Drittens: Auf die Institutionen ist kein Verlaß. Viertens: Die meisten in den Medien zugelassenen Diskurse sind ein Austausch unter Zombies, an die anzuschließen sich nicht mehr lohnt. In diesem Sinne besitzt das „Heerlager der Heiligen“ die Fähigkeit, von der anfänglichen Erschütterung zu einer Katharsis zu führen.
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Jean Raspail: Das Heerlager der Heiligen. Roman. Übersetzt von Martin Lichtmesz. Edition Nordost, Schnellroda 2015, gebunden, 416 Seiten, 22 Euro.
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