Die Welt reagierte schockiert, und den deutschen Medien war ein Feindbild abhanden gekommen. Wie kommt der Heilige Vater dazu, das Amt niederzulegen, wo man ihn doch längst als „unbelehrbar“ und „starrköpfig“, vor allem aber „machtbewußt“ (Hans Küng) karikiert hat? Benedikt XVI. sprach im Konsistorium von der Kraft, die es braucht, das „Schifflein Petri zu steuern“, eine Kraft, die in den „vergangenen Monaten derart abgenommen hat, daß ich mein Unvermögen erkennen muß, den mir anvertrauten Dienst gut auszuführen“.
Auf seine ganz eigene Art hatte der 85jährige Joseph Ratzinger am 28. Februar 2013, einem Montagmorgen, seinen Rücktritt bekanntgegeben, ein Novum in der Geschichte des Papsttums (mit einer winzigen Ausnahme irgendwann im Mittelalter). Er tat es in lateinischer Sprache, während einer Massenheiligsprechung von 800 Märtyrern und zwei Ordensgründerinnen, da wandte er sich an seine „lieben Mitbrüder“ und bat um Verständnis, „daß meine Kräfte infolge des vorgerückten Alters nicht mehr geeignet sind, um in angemessener Weise den Petrusdienst auszuüben“.
Er setzte ganz aufs Wort
Er ist nun zu seinen geliebten Büchern zurückgekehrt und dreht seine täglichen Runden mit Erzbischof Georg Gänswein zum Rosenkranzgebet. Anders als sein Vorgänger Johannes Paul II., dem polnischen Löwen, von dem es die großen Bilder gab, setzte er ganz aufs Wort. Darin war er „evangelisch“. Mit seinen drei Büchern über „Jesus von Nazareth“ (2007–2012) hat er tatsächlich – wie einst Luther – die Evangelien und den Glauben ins Zentrum gerückt. Und das in einer Zeit, in der besonders deutsche Katholiken Golgatha zunehmend für eine Zahnpasta halten und lieber über die „Pille danach“, die Frauenfrage und die Mitbestimmung nachdenken, als über den Kernskandal ihres Glaubens: die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus.
Ich habe ihn auf einer seiner letzten großen Reisen zum Weltjugendtag im August 2011 in Madrid kennenlernen dürfen, ich durfte mich kurz neben ihn setzen. Er fragte: „Na, Herr Matussek, wie geht es Ihnen denn beim Spiegel?“ und lächelte. Um nicht zu sagen: grinste. „Mal so, mal so, Heiliger Vater“, sagte ich, perplex darüber, wie gut er im Bilde war und lachte zurück, „im Moment eher so.“ Ich hatte erlebt, wie er vor mir mit anderen gesprochen hat, lächelnd, tröstend, wie er im Zwiegespräch diese Frau aufgerichtet hat, die auf tragische Weise Familienmitglieder verloren hatte.
Wer beginnt loszulassen, beginnt zu lieben?
Wir übersetzten dann gemeinsam das Augustinus-Wort, das ich ihm als Widmung in mein „Katholisches Abenteuer“ geschrieben hatte: „Incipit exire, qui incipit amare“ – Wer beginnt loszulassen, beginnt zu lieben? Loslassen, oder doch vielleicht wörtlich: hinausgehen? Hat er da bereits an den Ausgang, den Weggang gedacht, an eine Zeit, in der er sich ganz seiner Liebe zu Gott widmen kann?
Später dann, auf dem großen Flugfeld „der Vier Winde“ seine Messe vor anderthalb Millionen Jugendlichen. Ein fürchterlicher Sturm zog auf. Die purpurnen Würdenträger spannten vergeblich ihre Schirme auf, um ihn vor dem nun fast waagerecht peitschenden Regensturm zu beschützen. Eine Kamera brachte ihn ins Bild. Er saß da – und lächelte, als wolle er sagen: Wenn ihr naß werdet, werde ich es eben auch.
Er suchte die Versöhnung
Dieser große Intellektuelle konnte von einer anrührenden Schlichtheit sein. Er wuchs mit dieser Volksfrömmigkeit auf im oberbayerischen Marktl am Inn. Dieser Papst aus einfachsten Verhältnissen hatte – in all seiner Gelehrsamkeit – den Draht zu den einfachen Menschen, darin war er dem lächelnden Volkspapst Johannes XXIII. ähnlich.
Benedikt XVI. hat den Ornat getragen wie eine Last, aber eine großartige, würdevolle, denn es war die 2.000jährige Geschichte der Kirche, die er getragen hat, ohne zu klagen. Mit großartiger Unbeirrbarkeit hat er während der acht Jahre seines Pontifikats die Versöhnung gesucht, ohne die eigene Glaubensüberzeugung dabei aufzugeben.
Theologie der gläubigen Unerschrockenheit
Der Oberrabiner Yona Metzger befand: „Er verdient ein hohes Ansehen für den Ausbau der interreligiösen Verbindungen zwischen Judentum, Christentum und Islam.“ Nach seiner Regensburger Rede im September 2006, in der er die Intoleranz des Islam kritisierte, brannte die Westbank, zwei Nonnen wurden ermordet, die islamische Welt nahm wieder einmal übel. Allerdings auch das: es fanden sich 143 islamische Schriftgelehrte zusammen, die ihm für seine Initiative dankten.
Mittlerweile verstecken unsere kirchlichen Würdenträger lieber ihr Kreuz, um den Islam nicht zu kränken. Dieser Papst war von Beginn des Pontifikats, dessen Wahl durch die Kurie er wie ein „Fallbeil“ erlebt hat, von einer eigenen Theologie der gläubigen Unerschrockenheit beseelt. Seine großen Enzykliken, die sich um das paulinische Dreigestirn „Glaube, Hoffnung, Liebe“ drehten, hat er 2006 mit der über die „Liebe“ begonnen. Es sind diese Enzykliken – und die Jesus-Bücher – die sein päpstliches Vermächtnis bilden.
„Wir müssen den Menschen doch vertrauen“
Natürlich gab es Pannen. Daß ihn keiner über die wirren Vorstellungen des Holocaust-Leugners Richard Williamson informiert hatte, war so eine. Den Piusbrüdern wollte der Versöhnerpapst die Chance zur Rückkehr in die Kirche geben.
Im Mißbrauchsskandal griff er härter durch als sein Nachfolger, ja sogar sein Vorgänger: Er suspendierte über 800 Priester und entschuldigte sich für die Kirche und verfügte hohe Schadenersatzzahlungen.
Es gab Enttäuschungen anderer Art wie den plötzlich offengelegten jahrelangen Geheimnisverrat seines Kammerdieners Paolo Gabriele. „Was sollen wir denn machen?“ seufzte er damals in allerkleinstem Kreise. „Wir müssen den Menschen doch vertrauen.“
Papsttum einer ständigen, beglückenden Irritation
Es gab zermürbende Enttäuschungen, an die er sich gewöhnt hatte. Die kamen wohl hauptsächlich von seinen deutschen Landsleuten in der katholischen Kirche, seit Reformationstagen struppige Nachfahren einer struppigen Geschichte.
Zu ihnen hatte er sich in einer seiner letzten großen Reisen aufgemacht. Um in einer grandiosen Rede im Reichstag im September 2011 den Unterschied zwischen Wahrheit und Mehrheit aufzuzeigen. Um die Ökologie der Schöpfung und des Lebens zu erklären. Und um seinen deutschen Bischöfen in Freiburg das Motto der „Entweltlichung“ zuzurufen.
Nicht die Fassaden polieren, nicht in Riesenbürokratien verstricken! Nicht in Wohlfahrtskonzernen solle sich der Glaube erschöpfen, sondern im seelsorgerischen Miteinander, in einer Kirche der Armut und des Gebets, und da ließ dann der Heilige Franziskus grüßen. Dieses Papsttum war eine ständige, beglückende Irritation.
Verängstigt flatterte die Taube wieder zurück
Und was kommt nun? In meiner Novelle „Die Apokalypse nach Richard“, die 2012 erschien, hatte ich von einem Rücktritt des deutschen Papstes aus „Ermüdung und Resignation“ geschrieben, ja hatte ihn, der ein Jahr später erfolgte, vorweggenommen. Das war die Einleitung zu einem satirisch gemeinten Abschnitt über die Verwilderung des Glaubens unter einem seiner Nachfolger.
Was bleibt mir von diesem Papst? Es ist dieses Bild: Nach einem seiner letzten Angelus-Segen auf dem Petersplatz hatte er eine Schülerin neben sich, dort oben im zweiten Stock, die ihm Grüße zum Jahr des Glaubens überbrachte. Danach übergab ihm das Mädchen eine Taube, die er fliegen lassen sollte.
Papst Benedikt gab den Vogel frei. Die Taube flatterte, doch im gleichen Moment schossen zwei mörderische Möwen auf sie zu. Verängstigt flatterte sie wieder zurück und suchte Schutz beim Pontifex, diesem nicht minder verletzlich wirkenden alten Mann in Weiß. „Sie will wieder zurück“, rief einer.
Der Nachfolger hat nicht sein geistliches Format
In einer Welt, die keine Grenzen mehr kennt, hatte der Papst die Grenze des Alters aufgezeigt. Sicher, es gibt viele, die sich gewünscht hätten, daß dieser Papst wie sein Vorgänger in den Stiefeln an der Front stirbt. Aber ich respektiere seinen Entschluß, weil ich ihn so sehr verehre und liebe.
Leider hat sein Nachfolger nicht sein geistliches Format. Das weiß er selber und hat es wiederholt zugegeben. Darüber habe ich in dieser Woche in der Weltwoche und in Tichys Einblick geschrieben. Franziskus ist populär, ohne Zweifel. Jetzt hat ihn das Musikmagazin Rolling Stone zum zweiten Mal auf den Titel gesetzt. Die New York Times rief ihn bereits zum „Anti-Trump“ aus, und das Wall Street Journal zum „Führer der globalen Linken“.
Er hat die Gärten des Glaubens begradigt
Papst Franziskus hat auf Twitter mehr Follower als Miley Cyrus. Aber der Rolling Stone vergißt zu erwähnen, daß der Pontifex Maximus ungefähr 1,3 Milliarden Follower hat, die man Katholiken nennt. Und für die Katholiken der Welt hatte Papst Benedikt die bisweilen üppig wuchernden Gärten des Glaubens begradigt, hatte die Wege geradegezogen, hatte gegärtnert, während sein Nachfolger gerne wuchern läßt unter dem Motto: „Wir sind doch alle Kinder Gottes.“
Lieber Heiliger Vater Benedikt XVI., zu Ihrem 90. Geburtstag wünsche ich Ihnen Gottes Segen und Gesundheit und alles Gute. Wir brauchen einen wie Sie in diesen Zeiten mehr als je zuvor.
JF 16/17
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Matthias Matussek, Jahrgang 1954, arbeitete von 1987 bis 2013 beim Spiegel, danach für die Welt. Heute schreibt er als freier Autor unter anderem für die Weltwoche (Zürich).