Das erste Buch, das ich über die Bretagne gelesen habe, war im Hausverlag der Achtundsechziger, bei Trikont, erschienen. Auf der Linken hatte man in den siebziger Jahren entdeckt, daß es auch vor der eigenen Tür eine „Dritte Welt“ gab, in Gestalt jener Regionen, die von den Zentralen abgehängt, sozial benachteiligt und im Hinblick auf ihre Kultur, vor allem ihre Sprache, massivem Anpassungsdruck ausgesetzt wurden.
Natürlich spielte eine Rolle, daß es um „Minderheiten“ ging, unterdrückte zumal, und daß diejenigen, die sich ihrer vor Ort annahmen und für politische Mobilisierung sorgten, Gesinnungsgenossen waren. Aber es gab doch auch ehrliches Interesse an der Authentizität, dem Reichtum der Überlieferung, der Altertümlichkeit der Sitten, der Exotik der Mythen im Baskenland oder in Wales, in Okzitanien oder auf Korsika, im Elsaß oder eben in der Bretagne.
Rebellische Stimmung in der Bretagne
Die Attraktion der Bretagne als Reiseziel für die Deutschen hatte mit solcher Sympathie zu tun, aber nicht nur. Wer kam, war oft noch von der Frankreichbegeisterung der Nachkriegszeit geprägt, suchte die Unberührtheit der Landschaft oder ging auf Kulturfahrt, mit dem „Dumont“ unter dem Arm.
Bei einer Fahrradtour, wie ich sie damals für ein paar Wochen durch die Bretagne machte, begegneten einem allerdings nur wenige Landsleute. Und von denen verstand kaum einer, warum in den Jugendherbergen neben dem Gwenn-ha-du – der bretonischen Nationalflagge – auch die Fahne der québécois – der Frankokanadier – hing, in deren Kampf um Selbstbestimmung man sich wiedererkannte.
Das ganze hatte ein hohes Maß an Selbstverständlichkeit und hing mit der rebellischen Stimmung in der Bretagne zusammen, die durch die Tankerkatastrophe der Amoco Cadiz und den Kampf gegen die Errichtung eines Atomkraftwerks bei Plogoff genährt wurde. Der Autonomismus war populär, und wenn Alan Stivell bei einem seiner Konzerte „Ar Vro“ – „Das Land“ anstimmte, fiel das Publikum genauso selbstverständlich ein, wie bei einem Auftritt von Joan Baez „We shall overcome“ mitgesungen wurde.
Affinität der Deutschen gegenüber dem Keltischen
Mir ist erst mit Verzögerung klar geworden, daß mein Interesse an der Bretagne wie der linke „Ethnopluralismus“, von dem eingangs die Rede war, in einen größeren Zusammenhang gehören, daß es sich um Ausläufer einer Strömung handelt, die geprägt war von einer auf den ersten Blick überraschenden Affinität der Deutschen gegenüber allem Keltischen. Die fand ihren Ausdruck früh in der Keltophilie des 18. Jahrhunderts, erhielt aber durchaus auch eine politische Dimension.
So erklären sich die Unterstützung Deutschlands für den irischen Freiheitskampf während des Ersten Weltkrieges und dann die Resonanz der Pläne zur Reorganisation Europas nach dem Prinzip des „selbständigen Volkes“ (Max Hildebert Boehm). Ein Gedanke, der auch in der Jugendbewegung Fuß faßte und zu einem wachsenden Interesse an den „kleinen Völker“ führte, mit denen das besiegte Deutschland ein Bündnis gegen die Siegermächte von 1919 eingehen sollte.
Von dieser Idee war vor allem Friedrich Hielscher begeistert, der den Plan entwarf, ein „Reich“ zu schaffen, das sich nicht mechanisch aus Staaten, sondern organisch aus „Stämmen“ aufbauen würde. Ende der 1920er Jahre war Hielscher einer der wichtigen nationalrevolutionären Ideengeber. Aber er wollte auch praktisch wirken. Nach der Machtübernahme Hitlers ging er an eine Art Unterwanderung des Regimes mit Hilfe seiner Gefolgschaft, eines engen, auf ihn und die Lehre seiner „Kirche“ eingeschworenen Kreises.
Die Idee eines Staates „Breiz“ verschwand schnell
Zu Hielschers Vertrauten gehörte dabei der junge Gerhard von Tevenar, der neben seiner journalistischen Tätigkeit für die Abwehr arbeitete. Zu Tevenars Aufgaben gehörte die Kontaktaufnahme zu den Vertretern aller möglichen unzufriedenen Minoritäten, insbesondere der Elsässer und Lothringer, der Flamen und der Bretonen. So kam er in Verbindung mit Olier Mordrel, der der Führung des Parti National Breton (PNB) angehörte.
Schon vor Kriegsausbruch wurde der PNB als hoch- und landesverräterische Organisation in Frankreich verboten, seine leitenden Funktionäre sollten festgenommen, vor Gericht gestellt und hingerichtet werden. Allerdings gelang Mordrel und einigen anderen rechtzeitig die Flucht nach Berlin. Dort bereiteten sie mit deutscher Unterstützung – aber ohne Wissen der Spitzen von Staat und Armee – einen Coup vor, der ganz den Vorstellungen Hielschers und Tevenars entsprach: die Ausrufung einer unabhängigen Bretagne.
Das Unternehmen scheiterte allerdings rasch am Einspruch der Wehrmachtsführung wie der fehlenden Unterstützung in der bretonischen Bevölkerung. Vollkommen verschwand die Idee eines Staates „Breiz“ als Vorposten Deutschlands am Atlantik deswegen nicht.
Unterschlupf für bretonische Nationalisten
Ernst Jünger, der mit Hielscher befreundet war, hat in seinen Tagebüchern den einen oder anderen Hinweis auf die „Bretonen“ vermerkt, womit Offiziere oder Verwaltungsangehörige im besetzten Paris gemeint waren, die nach wie vor mit der Idee einer selbständigen Bretagne sympathisierten.
Geworden ist daraus nichts, aber es gab ein Nachspiel, denn Hielscher wie Jünger boten nach Kriegsende einigen bretonische Nationalisten Unterschlupf, nach denen die französischen Behörden fahndeten und gegen die im Regelfall Todesurteile ergangen waren. Auf abenteuerlichen Wegen gelang es ihnen, entweder unterzutauchen oder bis in die „keltischen Bruderländer“ Wales und Irland zu gelangen, wo man die Auslieferung in jedem Fall zu verhindern wußte.
Armin Mohler, der als ehemaliger Sekretär Jüngers auch von diesen Zusammenhängen wußte, geriet in seiner Zeit als Pariser Korrespondent selbst in den Bann des „Bretonismus“. Er kannte noch die skurrilsten Gruppen, Neu-Druiden und Anhänger eines „keltischen Christentums“, die Traditionalisten um die Zeitschrift „La Bretagne Réelle“ genauso wie die Jungen, die Ende der 1950er Jahre den „Mouvement pour l‘ Organisation de la Bretagne“ (MOB) gründeten, aus dem fast alle neueren Gruppierungen der bretonischen Bewegung hervorgingen.
„Naive Rasse“
Und ein Gerücht will wissen, daß Mohler, als de Gaulle in Paris die IV. Republik erledigte, selbst irgendwo in den Tiefen Armorikas übte, Zwiesprache mit der Natur zu halten, und nur nach einem dringenden Telefonanruf hastig in die Hauptstadt zurückkehrte. Man kann noch in diesem skurrilen Vorgang einen Hinweis auf die stetige Sympathie der Deutschen für die Bretonen sehen, auch wenn längst niemand mehr das Lied vom „Frewlein aus Brittannia“ singt, das beklagt, wie der französische König die bretonische Herzogin Anne „gefangen nahm“ und ihrem eigentlichen Gemahl Maximilian I. entzog (nach Meinung einiger bretonischer Hardliner der letzte legitime Herzog des Landes).
Im Kern geht es um ein seit der Romantik unverlierbares Wissen im Hinblick auf das Besondere, das einem Volk eignet und für das man Neigung oder Abneigung empfindet, und wohl auch um einen gewissen seelischen Gleichklang, im Sinne dessen, was Renan über die Kelten als „naive Rasse“ gesagt hat: „Wir glauben an das Wahre, an das Gute.“
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Bisher erschienen:
Bretonische Skizzen I
Bretonische Skizzen II – Ernest Renan
Bretonische Skizzen III
Bretonische Skizzen IV – Comics und Identität
Bretonische Skizzen V
Bretonische Skizzen VI
Bretonische Skizzen VII – Seiz Breur