Das Kloster Landévennec lag in der Abendsonne. Im Hintergrund hörte man leise den Gesang der Mönche bei der Vesper. Der Pfadfinder stand in der Tür des Empfangsraums. Ein junger, hochgewachsener Mann, braungebrannt, im hellblauen Hemd der Scouts d‘ Europe. Auf die Frage des Besuchers, ob man in das Innere der Abtei gehen könne, verneinte er freundlich, aber bestimmt.
Er stehe hier nur, weil er zu spät zum Gottesdienst gekommen wäre und die Andacht nicht stören wollte. Lächelnd wies er mit dem Kinn auf den Korb Wäsche, den er vor sich hielt. Dann fügte er hinzu, er helfe den Vätern bei der täglichen Arbeit und nehme sonst mit seinem Trupp für ein paar Wochen am geistlichen Leben des Klosters teil.
Die Scouts d‘ Europe sind ein relativ kleiner, betont christlicher Pfadfinderverband, der Anfang der 1960er Jahre entstand, als die größere Organisation der Scouts de France zunehmend unter den Einfluß des linken Zeitgeistes geriet. Ihre Erziehungsprinzipien sind traditionell, die Bindung an die katholische Kirche ist eng, das Weltbild, das man vermittelt, konservativ.
Das Geschehene ist nicht vergessen
Insofern überraschte es nicht, daß der junge Mann an seinem Ärmel einen kleinen Aufnäher mit dem Schriftzug „Groupe Georges Cadoudal“ trug. Cadoudal war einer der wichtigsten Anführer der Königstreuen während der Französischen Revolution. Die von ihm in der Bretagne kommandierte „Armée catholique et royale“ – die „Katholische und Königliche Armee“ bestand im Kern aus frommen Bauern, die die Gottlosigkeit der Republik und die Ermordung Ludwigs XVI. empörten. Cadoudal selbst starb 1804 unter der Guillotine, erst danach gelang es Napoleon, die Bretagne und das angrenzende Gebiet der Vendée, die wesentlichen Zentren des Bürgerkriegs zwischen „Blauen“ und „Weißen“, zu befrieden.
Vergessen wurde das Geschehen allerdings nicht. Die Massaker im Namen der Freiheit und der Menschenrechte könnten weit mehr als einhunderttausend Todesopfer gefordert haben, der „innerfranzösische Genozid“ (Reynald Secher) prägte die kollektive Erinnerung in großen Teilen Westfrankreichs und war in der Bretagne mitverantwortlich für Entstehung eines Sonderbewußtseins, das Paris selbstverständlich mißtrauisch beobachtete.
Die Armut und partielle Rückständigkeit des Landesteils, die Beharrlichkeit, mit der an der Tradition und der bretonischen Sprache festgehalten wurde, der große Einfluß des Adels und der Landgeistlichen nährten zusammen mit einem neuen, aus der Romantik gespeisten Bild der großen keltischen Vergangenheit den Stolz und den Eigenwillen der Bretonen.
Das führte am Übergang vom 19. Jahrhundert zum 20. Jahrhundert zur Geburt der bretonischen Bewegung, die einerseits die Aufgabe des Zentralismus in Frankreich und Schaffung einer föderalen Struktur forderte, andererseits eine kulturelle Hebung der Bauern bei gleichzeitiger Erhaltung ihrer Überlieferung verlangte. Die zentrale Figur in diesem Zusammenhang war der Priester Jean-Marie – bretonisch Yann-Vari – Perrot.
Traditionsbewußte Bretonen verehren Perrot
Gegen den Widerstand des nationalfranzösisch denkenden Episkopats machte er sich für die Unterstützung und Seelsorge in den entlegeneren Gemeinden der Bretagne stark, forderte die Predigt auf bretonisch und schuf 1905 eine der einflußreichsten bretonischen Organisationen unter dem Namen „Bleun Brug“ – „Heideblüte“. Abbé Perrot wurde trotz der permanenten Drangsalisierung durch die weltliche wie die geistliche Obrigkeit etwas wie der Sprecher der Bretonen.
Er hielt deshalb Kontakt zu fast allen Gruppen, auch zu denen der radikalen Nationalisten im Umfeld der Zeitung Breiz Atao, die nach dem Ersten Weltkrieg entstand und die Schaffung eines eigenen bretonischen Staates forderte. Als die Verwirklichung dieses Ziels nach dem Zusammenbruch Frankreichs 1940 für einen Moment in greifbare Nähe zu rücken schien, hielt Perrot allerdings Abstand. Ihm wäre an einer moderaten Lösung des Problems der Autonomie gelegen gewesen. Trotzdem galt er in den Augen der kommunistischen Résistance als Kollaborateur und wurde am 12. Dezember 1943 Opfer eines Anschlags.
Die Auseinandersetzung um die Person Perrots wie die Gründe seiner Ermordung hält bis heute an. Traditionsbewußte Bretonen verehren ihn nach wie vor, für die Linke – die französische wie die bretonische – war er ein Reaktionär, wenn nicht „facho“. Sein Grab in einem kleinen Weiler bei Scrignac wurde seit 1980 mehrfach geschändet; zuletzt im April 2018.
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Bisher erschienen:
Bretonische Skizzen I
Bretonische Skizzen II – Ernest Renan
Bretonische Skizzen III
Bretonische Skizzen IV – Comics und Identität
Bretonische Skizzen V