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Kein Jammern bei Sibylle Berg

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Über den Kulturpessimismus als Produkt einer überalterten Gesellschaft hat sich nun die Schriftstellerin Sibylle Berg ausgelassen. Wie so oft bei plakativen Stellungnahmen hat auch sie damit recht und unrecht zugleich.

Berg wendet sich gegen die kulturpessimistische Klage von einer „generellen Verblödung“ der Jugend, von allgemeiner „Gentrifizierung“ und dem „Untergang des Abendlandes“. All diese beklagten Entwicklungen mögen eventuell zutreffen, aber es sei sinnlos sich darüber aufzuregen, so Berg: „Kulturpessimismus ist keine Antwort auf die Veränderung der Welt, sondern das Jammern Sterbender.“

Mit dieser Aussage hat Berg so unrecht nicht. Man sieht, was man ist. Und man ist, was man sieht. Der älter werdende Mensch spürt bewußt und unbewußt, daß seine Lebenszeit schwindet. Der von ihm wahrgenommene oder auch nur gefürchtete „Verfall“ überträgt sich auf seinen Blick auf die Welt.

Die Welt dreht sich auch nach dem eigenen Ableben weiter

Wo ihm in der Kindheit alles als aufregendes Neuland erschien, in der Jugend alles Verheißung, im mittleren Lebensalter als Bewährungskampf, da sieht er im Alter Verfall allerorten. Die Jugend schätzt nun die alten eigenen Werte scheinbar nicht mehr, die Qualität der einst vertrauten Gebrauchsgüter scheint zu schwinden, überhaupt verwandelt sich die ganze Welt in ein Jammertal, das dem Untergang entgegen taumelt. Diese Sichtweise ist gerade in großen Teilen der deutschen Bevölkerung latent.

Und sie wird noch verstärkt, wenn diese alternde und dadurch immer ängstlichere und verbittertere Gesellschaft auf vitale, jugendliche Kräfte trifft, die das eigene Sterben noch offenkundiger machen – in diesem Fall die kinderreichen Zuwanderer aus Nahost und Afrika. Dabei wird gerne übersehen, daß sich die Welt auch nach dem eigenen Ableben weiterdrehen wird, Neues heranwächst, blüht, sich entfaltet, wieder verfällt.

Berg hat in ihrem durchaus feinsinnigen Blick auf die vielerorts anzutreffende Stimmung also auch recht. Man könnte natürlich anmerken, daß sie Unrecht hat in der objektiven Bewertung der Lage. Denn es gibt ja durchaus einen realen Befund, es gibt Pisa-Studien, alltägliches Erleben bestimmter Verhaltensweisen spezifischer Jugend- und Bevölkerungsgruppen, reale Stadtbildschäden oder Schlaglochpisten, wirtschaftliche und demographische Daten, an denen gar nicht zu rütteln ist. „Verfall“ ist also auch partiell objektiv nachweisbar. Doch an den Fakten rüttelt Berg nicht einmal, sondern setzt einfach trotzig die rosa Brille auf.

„Vielleicht kommt etwas Neues, vielleicht auch nicht“

So schreibt sie: „Wir befinden uns im Weltumbruch Nummer zwei nach dem Maschinenzeitalter. Toll, erleben wir das. Ich glaube daran, daß die Menschen klüger werden dadurch und daß die Vorteile überwiegen. (…) Heulen wir, weil es Höhlenmalereien nicht mehr gibt? Vielleicht kommt etwas Neues, vielleicht auch nicht. Möglicherweise ist diese Mischung aus Mensch und Computer total liebenswürdig und von den schlechten menschlichen Eigenschaften befreit.

Vielleicht wird es einige Kriege geben, arme Länder gegen reiche Länder, vermutlich wären die Städte für eine wie mich ein wenig öde in ihrer Poliertheit. Aber wer bin ich, das Fehlen von Dreckecken zu beanstanden? (…) Und wenn keiner mehr ins Theater gehen will, weil das zu Tode verwaltete Stätten geworden sind, die Künstler schlecht bezahlen und in denen Verwaltungsangestellte regieren, dann ist das so. Dann sehen wir uns eben freie Gruppen an oder Filme, was soll sein.“

Berg schreibt: „Was gerade passiert, ist Evolution, sage ich dem älteren Paar an meinem Tisch, das immer noch über die Verblödung der Jugend redet, man kann sie nicht aufhalten, ohne sich lächerlich und unglücklich zu machen. (…) Es gibt kein Besser-oder-schlechter, es gibt eine Entwicklung.“

Die objektiven Daten liegen auf der Hand

Letztlich führt aber Bergs unkritische Zustimmung zu einer angeblichen „Evolution“ zum Gleichen, wie die Klage der „Kulturpessimisten“. Sie führt zur Passivität und zum fatalistischen Hinnehmen falscher sozialer Entwicklungen und politischer Ist-Zustände. Es gibt einige häufiger anzutreffende stereotype Reaktionen auch in Leserreaktionen dieser Zeitung. (Ich bitte das nicht als Angriff mißzuverstehen, sondern als nur Impuls zur Veränderung von Blickwinkeln und Reaktionen.) So liest man manchmal Sätze wie: „Wo soll das alles noch enden?“ oder „So kann es doch nicht weitergehen.“ oder „Man hat den Eindruck, daß es bald noch soweit kommt…“

Dabei ist es längst soweit und alles wohl bekannt. Solche Leserreaktionen sind von Angst geprägt, und sie versuchen diese im Zaum zu halten, in dem sie sich immer noch Illusionen hingeben, die Entwicklung würde schon nicht so schlimm werden, wenn nur unsere Politiker bald etwas mehr Einsicht zeigten oder Umkehr einleiteten.

Doch die objektiven Daten liegen auf der Hand, Trends werden seit Jahren vor allem von konservativen Publizisten scharf benannt. Jeder kann sich informieren und muß nicht wie der Hase vor dem Kaninchen zittern. Wo Berg sich rosarot durch eine ominöse und scheinbar ungelenkte „Entwicklung“ einlullt, neigen (ältere) Leser also bisweilen dazu, nur die Hände zum Gebet zu falten.

Reaktionen der Machtlosigkeit

Beides sind Reaktionen der Machtlosigkeit. Nun ist diese keine Schande, wohl aber ist es fatal, sich zu früh völlig in diese zu ergeben. Denn das hieße ja, Kritik an gesellschaftlichen Fehlentwicklungen fortan zu unterlassen und es den Profiteuren allzu leicht zu machen. Die Entwicklung aber ist keinesfalls nur eine „Evolution“, sondern auch das Ergebnis konkreter Machtkämpfe und Interessenpolitik. Man kann zum Beispiel durchaus kritisieren und dagegen kämpfen, daß irgendwelche Immobilien-Investoren alte Fachwerkhäuser abreißen, um dort kantige Apartment-Blöcke hinzustellen.

Damit muß man sich nicht abfinden und sagen, daß sei nun eben „die Evolution“. Man kann auch einem Jugendlichen sagen, daß er nicht im Bus auf den Boden spucken oder die Musik laut drehen solle, statt zu denken, daß dies eben die zwangsläufige Zukunftsentwicklung darstelle. Evolution kann auch in Sackgassen führen, und zu ihrem guten Gelingen gehört eben stets auch ein wenig „Kampf“.

Sowohl die Ängstlichen wie auch die rosaroten Befürworter verhalten sich latent unkritisch und passiv. Sie verkennen, daß viele gesellschaftliche Entwicklungen nicht Folge einer unbeeinflussbaren, naturwüchsigen „Evolution“ sind, sondern durchaus von Menschen geplant und betrieben werden. Sie nennen nicht die Urheber globaler Machtstrategien, die vielfältige Beeinflussung durch Werbe- und Medienkampagnen.

Von der vermeintlichen „Evolution“ – man könnte auch von „Alternativlosigkeit“ sprechen – profitieren nämlich vor allem jene, die sie anstoßen, steuern und ihre Profite einstreichen. Literaten wie Berg, die ihre zweite Lebenshälfte scheinbar möglichst unbelastet genießen möchten, kommen diesen dabei natürlich gerade recht.

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