Kaum ist der „Konsenskandidat“ für die anstehende Bundespräsidentenwahl nominiert, prasselt auch schon das Störfeuer der Kritiker aus Prinzip auf den Unterstand „Bundesrepublik“ hinab. Doch nicht allein die voraussehbaren politischen Miesepeter von links („Kandidat der kalten Herzen“, „Prediger für die verrohende Mittelschicht“) und die diversen muslimischen Verbänden bekunden ihren Unmut über Joachim Gauck.
Kritik scheint sich auch aus der nebulösen „Mitte der Gesellschaft“ zu erheben – so abstrus und anmaßend, wie es einer permissiven Gesellschaft gebührt. Dies veranschaulicht eindrucksvoll eine Internet-Petition auf dem Portal openPetition.
Die Rabulistik des „kleinen Mannes“
Auf dieser Seite stehen derzeit unter anderem die Einführung einer Waffensteuer sowie das tierärztliche Dispensierrecht hoch im Kurs; auch führt sie als Referenzen an, daß die AStA der Universitäten Frankfurt und Saarbrücken sowie die BUND-Ortsgruppe Meerbusch dort bereits Petitionen geschaltet hätten.
Am vergangenen Samstag stellte ein gewisser „Dr. med.“ Thomas Kochmann aus Wallenhorst dort eine Petition ein, die in Form eines offenen Briefs direkt an Gauck adressiert ist. Deren Inhalt ist – man verzeihe mir die Wortwahl frei nach Dietmar Wischmeyer – so verstrahlt, daß es zum kompletten Durchlesen schon mehrere Anläufe braucht.
Äußerst feinsinnig formuliert
Im wesentlichen geht es darin um Herrn Kochmanns Besorgnis ob der Kandidatur Gaucks, denn diese habe „Unsicherheit bei vielen Bürgern erzeugt“ (eine beinahe merkelhafte Formulierung). Gründe dafür gebe es zweierlei, nämlich zuvorderst seine skeptische Grundhaltung gegenüber der Integration „vor allem der muslimischen deutschen Bevölkerung“. Ausgehend von Gaucks anerkennenden Äußerungen über Thilo Sarrazin von Ende 2010 ist sich Kochmann nicht zu schade, gleich das ganz große Faß aufzumachen und unumwunden zu fragen: „Sind für Sie die Deutschen anderer Religion ein Problem? Sind für Sie die Deutschen mit genetischen Benachteiligungen ein Problem?“
Da ist der offene Petitionsbrief gerade einmal fünf Sätze alt (einer davon ein direktes Zitat), und schon tritt „Godwin’s Law“ in Kraft. Zwar werden (noch) nicht direkt der böse Adolf und seine Nazis bemüht – aus Anstand oder aus Feigheit? –, aber auch dem arglosen Leser wird im weiteren Verlauf des Kochmannschen Palavers schnell klar, wer mit den „Deutschen anderer Religion“ vielleicht noch gemeint sein könnte und auf welche historischen Untaten die „genetischen Benachteiligungen“ anspielen. Leider zieht Kochmann nämlich nicht die im Internet übliche Konsequenz aus Godwins Gesetz und gibt sich als argumentativer Verlierer geschlagen; das wäre in einem offenen Brief, auf dessen Anwürfe Gauck nicht direkt antworten kann, allerdings auch eine unwahrscheinliche Wohltat. Statt dessen schreibt der laut eigener Aussage ehemalige CDUler munter weiter.
Tanz um die brennende Nebelkerze
Schnell ist Kochmann auch mit dem Vorwurf der „Verschwörungstheorien“ bei der Hand. Diese würden „gerne von Gegnern der Pressefreiheit verbreitet“ , was sich unter anderem darin niederschlage, daß Befürworter der Gleichstellung von Paßdeutschen und „vollwertige[n] Deutsche[n]“ unisono in die Nähe der Linkspartei gerückt würden. Unklar bleibt, was genau mit dieser ominösen, idealen Gleichbehandlung gemeint sein soll.
Ebenso definiert der Autor nicht, wie sich die von ihm heraufbeschworenen Beispiel-„Bürger“ denn dafür „einsetzen“ – sollte es dabei exemplarisch um randalierende Antifa-Proleten gehen, die Anti-Moschee-Kundgebungen angreifen, so ist es gelegentlich wohl durchaus legitim, diese in die Nähe der SED-Nachfolger zu rücken. Was das alles aber letzten Endes mit der Pressefreiheit zu tun hat? Diese Erklärung bleibt uns Kochmann schuldig. Mithin widerlegt er sich in seiner Argumentationskette sogar selbst. Es war wohl einfach zu verlockend, ein weiteres Schlagwort der FDGO in den Petitionstext einzubauen; da kann der Sinnzusammenhang schon einmal auf der Strecke bleiben.
Auf die Knie, Deutschland! Sei ein Vorbild!
Mit Staffagen aus der Rumpelkammer des Gutmenschentums geht es direkt im Anschluß fröhlich weiter: Nun ist Sarrazin an der Reihe, der nach Kochmannscher Diktion „gegen die Menschenwürde argumentiert“. Vielsagend sind die Beispiele, die er für diesen – in den Augen des durchschnittlichen Lesers mithin ungeheuerlichen – Vorwurf anführt sowie seine persönlichen Einlassungen dazu. Hier geht, für jeden les- und nachvollziehbar, die dunkle Saat des Wulffschen Paradigmas, der Islam gehöre zu Deutschland, auf und zeitigt exakt die Ergebnisse, die aus konservativen und rechten Kreisen sofort nach dem diesbezüglichen Postulat des ehemaligen Bundespräsidenten prophezeit wurden: „Es verstößt gegen das Grundgesetz, wenn von Muslimen mit Migrationshintergrund, […] mehr erwartet wird und weniger geboten wird als z.B. Deutschen mit christlichem Hintergrund“, so beginnt Kochmann seinen Sermon über die Ungehörigkeit integrativer Ansprüche an die Allochthonen in diesem Land.
Deutschland sei vielmehr in der Bringschuld, weil es mit dem Öffnen der deutschen Grenzen für türkische Gastarbeiter gleichsam den Islam importiert habe und nicht verhinderte (natürlich darf das auf keinen Fall fehlen!), daß dieser real existierende bundesrepublikanische „»Islam an sich«“ (Doppelzitat beabsichtigt) (mutmaßlich) von drei Terrornazis in seinen Grundfesten erschüttert wurde. Nun, ein halbes Jahrhundert nach dem Anwerbeabkommen mit der Türkei, sei es für die BRD an der Zeit, international als „teilweise islamisches Land“ aufzutreten. Dies ist laut Kochmann nicht nur „Deutschlands Verantwortung aus dem Holocaust“, nein: So könne man auch eine Vorbildfunktion für Israel und den Iran übernehmen, indem man ein „gegenseitig wertschätzendes Miteinander zwischen christlich-jüdischer und muslimischer Kultur in einem hochentwickelten Land“ vorlebe. Wenn Sie, liebe Leser, an dieser Stelle einen makabren Scherz argwöhnen, so muß ich ihnen leider die Erleichterung verwehren – das steht da wirklich so drin.
„Ärztlich“ verordnete Geschichtsstunde
Nach einem kurzen, hysterischen Fuchteln mit den ausgeblichenen Sarrazin-Gegner-Fähnchen „Eugenik“ und „Sozialdarwinismus“ holt Kochmann zum zweiten großen Schlag gegen Gaucks Integrität aus. Dabei geht es um Gaucks Vorsitz im Verein „Gegen Vergessen – Für Demokratie“, auf dessen Internetpräsenz sich bestürzenderweise keine hinreichende „Würdigung“ der „Einzigartigkeit in der Geschichte der Menschheit“ des Holocaust finden lasse. In der Folge belehrt der „Dr. med.“ Kochmann Gauck in einer Art und Weise, daß es mich als Geschichtsstudenten gruselt: „Das Wort »Holocaust« wurde eigens für dieses Ereignis geprägt.“
Offenbar gehen seine Altgriechischkenntnisse tatsächlich nicht über die Fragmente hinaus, die im ersten Semester des Medizinstudiums im Kurs „Medizinische Terminologie“ vermittelt werden (ich weiß das aus eigener Erfahrung – Kochmann offenbar nicht, siehe unten). Gleichwohl wird diese schwachsinnige Behauptung nachrangig, wenn dem kommenden Bundespräsidenten anschließend infolge nichtswürdiger Spitzfindigkeiten der Vorwurf der Holocaustrelativierung gemacht wird.
Feigling Sarrazin?
Nach dieser selbstgemachten Blamage stellt Kochmann nochmals unmißverständlich klar, daß er als „bekennender Nichtchrist jüdischer Abstammung“ – offenbar eine Untermauerung seiner Autorität? – außer zur Diffamierung Gaucks gar nicht weiter an Israel oder dem Judentum interessiert ist, sondern sich vielmehr als Schild und Schwert der von einem von Gauck sekundierten Sarrazin diskriminierten Muslime in Deutschland sieht: „Ich erwarte von Ihnen nicht nur Mitleid mit den Opfern des Neonazi-Terrors, sondern ebenfalls Ehrfurcht vor dem Koran und dem Muslimischen Glauben.“
Abschließend „bittet“ Kochmann Gauck darum, Sarrazin die „»Feigheit«“ zu „bescheinigen“, „mit opportunistischen Beleidigungen von wehrlosen Minderheiten in unserer Demokratie viel Geld verdient zu haben“ – wie wehrlos die Minderheiten hierzulande sind, wird einem ja ständig vor Augen geführt. Darüber hinaus gelte es noch, die Notwendigkeit einer Verfassungsänderung einzusehen, um die Singularität des Holocausts im Grundgesetz zu zementieren.
„Doktor“ oder nicht, bleib‘ bei Deinen Pillen!
Bezeichnenderweise kann petitio, der lateinische Wortstamm des Begriffs „Petition“, auch mit „Angriff“ übersetzt werden. Die Petition des „Dr. med.“ Thomas Kochmann aus Wallenhorst, ist ein Paradebeispiel dafür, warum es ein Muß ist, politische Texte mit der gebotenen Ruhe und Präzision zu lesen. Zwar ist Kochmanns Argumentation ungeschickt und an unzähligen Stellen geradezu grotesk falsch, sein Stil plump, doch darf man von vielen eher zufälligen Lesern wohl allenfalls ein hastiges Überfliegen der Petition erwarten, bei dem Reizworte wie „Pressefreiheit“, „Menschenwürde“, „rechtspopulistisch“ und „wehrlose Minderheiten“ ins Auge springen und der knallig rote „Unterzeichnen“-Knopf auf nachgerade pawlowsche Weise schneller gedrückt ist, als die Ratio mit dem Denken hinterherkommt.
Immerhin scheint die bitter-betrübte Besorgtheit des „Mediziners“, der sein Medizinstudium samt Promotion beachtlicherweise offenbar in den elf Monaten seit seiner letzten Petition absolviert haben muß und ansonsten noch eingetragener Kaufmann und Stiftungsratssprecher der Wallenhorster „Indienstiftung“ zu sein scheint (Google funktioniert nämlich auch umgekehrt, liebe Linke!), nicht die gewünschte Aufmerksamkeit zu bekommen; über 15 Unterstützer (einer davon von außerhalb Deutschlands), laut openPetition „0,00% aller Einwohner“, ist das Gesuch bis zur Abfassung dieser Kolumne nicht hinausgekommen.
Auch auf der dazugehörigen Debattenseite haben die von jedem Gast verfaßbaren Contra-Argumente die klare Oberhand. Wirkliche Spannung vermag der absurde offene Brief des Herrn Dr. Kochmann nicht zu erzeugen; wohl eher handelt es sich bei ihm um eine öffentliche Zurschaustellung dessen, was heute perverserweise als „Zivilcourage“ rubriziert wird … und „rubrizieren“ kann amüsanterweise ja auch mit „rot schreiben“ übersetzt werden.