Weihnachts- und Neujahrsansprachen – ich kenne niemanden, der sie sich ansieht. Zumindest nicht an den entsprechenden Tagen; allenfalls werden sie im Laufe des Jahres, wenn es schon die ersten satirischen Seitenhiebe gibt, nochmals aus den Untiefen des Internets hervorgekramt.
Niemand schaut sich’s an – und der Rest hört nicht zu
Eigentlich ist das auch durchaus verständlich. Wer will sich schon an Feiertagen im Kreise seiner Lieben ein weiteres Mal schwarzärgern, wenn er auch jeden anderen Tag im Jahr dazu Gelegenheit hat? Auf der anderen Seite gäbe es oftmals amüsante Details zu entdecken: Beispielhaft sei hier nur an die „Affäre“ um die Neujahrsansprache Helmut Kohls 1986 erinnert, als (angeblich aus Versehen) die Rede des Vorjahres gesendet wurde – was anfangs nicht einmal auffiel. Was diese Anekdote über die Austauschbarkeit politischer „Alles wird gut“-Floskeln à la Nina Ruge aussagt, sei einmal dahingestellt; ebenso wie Spekulationen darüber, ob sich seitdem etwas geändert hat.
An dieser Stelle möchte ich aber kurz an das vorvergangene Jahr erinnern. Damals sprach Frau Merkel, der „einstmals mitteldeutsche Seelenknödel im Hosenanzug“ (Eckhard Henscheid), unter dem Eindruck der Bankenkrise diese schicksalsschweren Worte: „2009 wird ein Jahr schlechter Nachrichten sein. Deshalb bauen wir Brücken, damit es 2010 besser wird.“
Über-Brückung des Volks
Nun, was für tolle „Brücken“ das waren und wieviel besser 2010 mit seinem Euro-Rettungsschirm geworden ist, wissen wir ja inzwischen. Daß nicht einmal die Griechen ihr für ihre Leistungen dankbar sind, obwohl das „Zögern“ der Kanzlerin wohl hauptsächlich der kippeligen NRW-Landtagswahl geschuldet gewesen sein dürfte, fällt gar nicht ins Gewicht.
Letztlich scheint der Euro, der Kitt unserer glorreichen europäischen „Schicksalsgemeinschaft“, ja vorerst gerettet – da kann auf Volksmeinungen nun einmal keine Rücksicht genommen werden, weder in Deutschland, noch in Griechenland oder sonstwo.
Jedes Jahr dasselbe: „Mehr Engagement!“
Zu den aktuellen beiden Ansprachen von Merkel und Wulff läßt sich jedenfalls kaum etwas sagen. Warum das so ist? Beide lavieren sich leidlich geschickt um jedes heikle Thema herum. Die Kanzlerin erging sich in Allgemeinplätzen und vollführte ihre persönliche Marken-Handbewegung (Fingerspitzen aneinanderlegen und wieder öffnen) so roboterartig, daß die Kamera schnell auf ihr bemerkenswert sorgenvolles Gesicht zoomte. Im Internet finden sich mittlerweile schon die ersten „Übersetzungen“ ihrer Ansprache. Teilweise zwar sehr krude, doch läßt wohl so mancher Kommentar den aufmerksamen Beobachter der gegenwärtigen Lage bitter auflachen.
Und der Bundespräsident? Nennenswert ist eigentlich nur, daß Wulff seine Rede im Stehen hielt – und sich ein kunterbuntes Grüppchen von Menschen ins Schloß Bellevue eingeladen hatte, die sich seiner Aussage nach alle „verdient gemacht“ hätten, dann aber doch einen arg zusammengecasteten Eindruck machten. Letztlich waren beide Ansprachen, ebenso wie zum Beispiel auch die von Horst Köhler aus dem Jahr 2009, wiederum nur Appelle an die „Bevölkerung“, sich noch stärker zu engagieren, mehr zu leisten und sich mehr zu kümmern – für die Demokratie, oder so.
Was das Land in 2010 noch bewegte, wie Politiker-Rücktrittswellen, die Loveparade-Katastrophe oder die Debatte um die Vorratsdatenspeicherung – kein Wort davon. Im Vertrauen auf das bekannte „sehr kurze Gedächtnis“ (Uwe Andersen) des Wahlvolkes werden Kontroversen ausgeblendet und vage, auf einen unbestimmten Zeitpunkt gerichtete Versprechen gemacht. Nicht einmal die sich überschlagenden Ereignisse rund um Thilo Sarrazin und seine Wirkung auf die Deutschen waren Thema – darum durfte sich Harald Schmidt kümmern. Genau wie übrigens auch um Wulff.