Mit der vom politisch gesteuerten Obersten Gerichtshof Rußlands angeordneten Liquidierung der Stiftung „Memorial“ als „ausländische Agenten“ hat die beabsichtigte Re-Sowjetisierung Rußlands durch den 69jährigen offenkundig imperial-nostalgisch gewordenen ehemaligen Tschekisten Wladimir Putin eine neue Qualität erreicht. Vor 30 Jahren während Gorbatschows Glasnost gegründet, hat sich „Memorial“ um die Aufarbeitung der Verbrechen von 70 Jahren Sowjetdiktatur durch die Anlage von Archiven, Opferlisten, die Erschließung von Grabstätten und die Errichtung von Denkmälern historische Verdienste erworben und die Geschichtsmanipulation den post-sowjetischen Kremlideologen entrissen. All dies soll jetzt wieder ungeschehen gemacht werden.
Ein zynischer amerikanischer Studienkollege fragte mich einst: „Wer war besser, Hitler oder Stalin?“ Und als ich die Antwort verweigerte, antwortete er selbst: „Stalin, denn er brachte mehr Kommunisten um.“ Das ist sicher unbestreitbar. Nach Lenins Tod 1922 ließ er sämtliche potentielle Rivalen im Politbüro, ZK und unter den Volkskommissaren, darunter Trotzki (durch Mord in Mexiko), Sinojew, Kamenew, Bucharin und Rykow nach Folter, falschen Geständnissen und Schauprozessen hinrichten. Es folgte der Große Terror von 1936-38 mit 4,4 Millionen Opfern, bei der auch die Generalität und das Offizierskorps der Roten Armee nach der Erschießung der Marschälle Tuchatschewski, Blücher und Jegorow am Vorabend des deutschen Angriffs enthauptet wurden, was die beeindruckenden Anfangserfolge der Wehrmacht 1941/42 ermöglichte.
Im Massenterror gegen die eigene Bevölkerung starben fünf Millionen im Gulag, 1,7 Millionen bei den Deportationen, weitere fünf Millionen beim Terror gegen die Kulaken (Großbauern) und in der künstlichen Hungersnot des Holomodor gegen die ukrainische Landbevölkerung während und nach der Zwangskollektivierung. Dazu gab es 1,5 Millionen Hinrichtungen von Weißen Offizieren, Geistlichen, Adeligen und Bürgerlichen, sowie mindestens eine Million tote deutsche Kriegsgefangene und Zivilverschleppte. Stalins besonderer Haß und Paranoia galten nationalen Minderheiten: den Rußlanddeutschen, Balten, Ostpolen, den „kosmopolitischen“ Juden, Schwarzmeergriechen, den Kareliern, den Koreanern in Fernost, den Krimtartaren, und den Kaukasiern wie Inguscheten und Tschetschenen, die allesamt kollektiv deportiert wurden.
Sowjet-Grauen soll zensiert werden
Nach dem Krieg wurden ehemalige Kriegsgefangene aus deutschen Lagern und die „Befreiten“ der deutschen Besatzungsgebiete wegen vermeintlicher Kollaboration brutal verfolgt. Erst mit Stalins Tod im März 1953 hörten der Albtraum und die gerade angelaufene Kampagne gegen eine jüdische Ärzteverschwörung auf. Der Gulag wurde nach und nach aufgelöst.
All jenes millionenfache Grauen soll jetzt wieder als „damnatio memoriae“ geschichtspolitisch dem Vergessen und der Zensur eines sowjet-nostalgischen Kreml unterworfen werden. Dies ist nicht nur ein politischer Skandal und eine menschliche Tragödie, sondern einmal mehr der Versuch der Tschekisten im Kreml, die politische Kultur Rußlands nach rotchinesischem Muster von der zivilisierten Menschheit zu entfremden. Wie zu hoffen ist, sicherlich vergeblich.
Literaturempfehlung:
Einführung in die Geschichte: Jörg Baberowski, Der Rote Terror – Die Geschichte des Stalinismus