Die CDU hat mehrere Väter. Einer der bedeutendsten war Katholik und Rheinländer. Er kam 1878 in Köln zur Welt – und heißt Andreas Hermes. Anders als den anderen katholischen Rheinländer, der zwei Jahre vor ihm geboren wurde, hat die CDU ihn nahezu vergessen. Am Jahrestag der Parteigründung darf er seine Rolle nur noch als bedeutende Fußnote wahrnehmen. Dabei ist die politische Vita des Mannes, auf den sich die CDU am 26. Juni beruft, ein Menetekel.
Hermes war wie Konrad Adenauer bereits in der Weimarer Republik politisch tätig. Von 1920 bis 1922 Landwirtschaftsminister, später war er Reichstagsabgeodneter des Zentrums. Noch vor dem Ermächtigungsgesetz gab Hermes sein Mandat aus Protest zurück. Nach seiner Rückkehr aus dem kolumbianischen Exil 1939 beteiligte er sich am Widerstand gegen das NS-Regime – wegen seiner christlichen Weltanschauung, wie er selbst betonte. Dafür hätte er beinahe mit dem Leben bezahlt: Hermes‘ Name wurde von den Attentätern des 20. Juli in einer theoretischen Reichsregierung gehandelt. Der Volksgerichtshof verurteilte ihn deswegen im Januar 1945 zum Tod. Der Vorstoß der Roten Armee und eine Verzögerungstaktik seiner Frau verhinderten die Vollstreckung.
Als sich mit Kriegsende nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa christdemokratische Parteien entwickelten, übernahm Hermes die Initiative. Zwar entstanden bereits am 17. Juni 1945 die „Kölner Leitsätze“, die dazu aufriefen, Deutschland „auf dem unerschütterlichen Fundament des Christentums und der abendländischen Kultur“ aufzubauen. Es war jedoch der Gründungsaufruf der Berliner „Christlich-demokratischen Union Deutschlands“ vom 26. Juni, der nicht mehr von einer Sammlung, sondern einer Partei stammte, die überdies eine „Reichsgeschäftsstelle“ in Berlin eröffnete. In „heißer Liebe zum deutschen Volk“ riefen die Unterzeichner unter ihrem Gründungsvorsitzenden Hermes dazu auf, den „Weg der Wiedergeburt“ zu gehen. Der „Trümmerhaufen sittlicher und materieller Werte“ könne aber nur bewältigt werden, wenn „wir uns auf die kulturgestaltenden sittlichen und geistigen Kräfte des Christentums besinnen“.
„Keine Experimente“ bedeutete schon damals ewige Kanzlerschaft
Doch Hermes war das, was man in der CDU auch später kritisch beäugen sollte: ein Querkopf. Nachdem er im Dezember 1945 von den Sowjets zum Rücktritt von allen seinen Positionen gezwungen wurde – er war nicht nur CDU-Vorsitzender, sondern auch Stellvertretender Bürgermeister Berlins und Stadtrat für Ernährung – siedelte Hermes nach Westdeutschland über. Sein Eintreten für die Wiedervereinigung, die Kritik an der Westintegration und seine Konkurrenz zu Adenauer um den Parteivorsitz bedeuteten sein jähes politisches Ende. Hermes‘ Wiedereinstieg als Landwirtschaftsminister durchkreuzte der „Alte“. Adenauers Bonmot von der Steigerung „Feind, Erzfeind, Parteifreund“ sollte den Umgang von Christdemokraten untereinander die nächsten Jahrzehnte prägen.
Der Umgang der CDU mit ihren Personalien und ihren politischen Werten ist daher ein ebenso sonderbares Kapitel wie der Umgang mit der eigenen Geschichte. Es ist ein Spiel, in dem das eine behauptet, aber das andere getan wird. So schreibt die hauseigene Stiftung auf ihrer Webseite: „Ihre Gründung kann nicht auf ein Datum fixiert werden.“ Im Konrad-Adenauer-Haus stört das heute offensichtlich niemanden. Ähnliches veranschaulicht die Webpräsenz der CDU, die ihr Selbstbild mit Schlagwörtern wie Sozialer Marktwirtschaft, Nato, EU-Integration und Wiedervereinigung zementiert. In einem 120-Sekunden-Clip rekapituliert die Partei ihre Geschichte, wobei Parteigeschichte und Regierungsgeschichte identisch sind: CDU-Sein, das bedeutet vor allem: Kanzler-Sein. Von den Überzeugungen, die Männer wie Hermes vertraten, findet sich wenig.
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Darüber kann auch nicht die Schlüssel-Chiffre des Videos hinwegtäuschen, die sich als „Verantwortung“ tarnt. Verantwortung bedeutet Regierung, der Kreis schließt sich. Die Partei bemerkt dabei nicht einmal, wie sie einen alten linken Vorwurf nonchalant bestätigt. Frei nach Vergil: Dir, CDU, ist es bestimmt, Deutschland zu beherrschen. „Keine Experimente“ bedeutete schon damals ewige Kanzlerschaft. Sie bestätigt den Vorwurf des Kanzlerwahlvereins, ohne, daß er erhoben wurde.
Die CDU führt ihre eigene Geschichte ad absurdum
Eine umso erdrückendere Wirkung bekommt die Selbstdarstellung in ihrer Botschaft, was die CDU ausmacht: anfangs gegenüber der Frauenbewegung skeptisch, sei sie nun von Frauen dominiert; den Klimawandel habe man nicht sofort erkannt, bekämpfe man aber nun im Zusammengehen mit der Wirtschaft. Die Krönung bildet diese Botschaft: „Und wir sagen heute: Familie ist, wenn Menschen füreinander Verantwortung übernehmen.“ Dazu das Bild sich zweier im Bett anlächelnder Männer. Die „Ehe für alle“ als Errungenschaft einer auf Grundsätzen christlicher Sittsamkeit und abendländischer Kultur gründenden Partei. Man habe jetzt eben „begriffen“. Unausgesprochen müßte die Frage lauten: hatte die Linke also der ganzen Zeit über Recht?
Wie die CDU ihre eigene Geschichte ad absurdum führt, wird nicht nur an dieser Stelle deutlich. Opportunismus wird als Lernfähigkeit verkauft, und während man auf das „C“ bis heute nicht verzichten will, unterstützt die Parlamentarische Staatssekretärin Maria Flachsbarth eine Abtreibungsorganisation. Sie versprach in der Finanzkrise und der späteren Eurorettung, daß die Einlagen sicher seien, nur, um das Geld der Sparer über Nullzinsen zu enteignen. Sie predigte die Schwarze Null, wenn Steuersenkungen gefordert wurden, und lockerte Milliardensubventionen und Rettungspakete für das In- und Ausland, wenn es ideologischen Überlegungen dienstlich war. Die Partei stellt ein sicheres Deutschland im Jahr 2030 in Aussicht, nachdem sie es selbst 2015 so unsicher wie nie gemacht hat. Sie setzt jene linksideologischen Ideen um, die sie noch in den 90ern als Unsinn bezeichnet hätte.
Kalter politischer Opportunismus
Es wabert darin der Geist von CDU-Vordenker Andreas Rödder: Konservative verteidigen das, was sie früher bekämpft haben. Die CDU versucht damit auch geistesgeschichtlich einen Begriff zu ihren Gunsten umzuformen, damit er den eigenen Opportunismus legitimiert. Die Schönfärberei der eigenen Geschichte reicht wohl nicht mehr aus. Wie man sich als „christlich“ bezeichnen kann, ohne zumindest die Existenz einer objektiven Wahrheit anzuerkennen – Gott kann per definitionem nicht relativ sein, und damit auch die von ihm gegebenen Gesetze – bleibt das Geheimnis des sonderbaren Konservatismus der CDU. Ein Konservatismus, der früher davor warnte, daß alle Wege nach Moskau führten und heute zumindest in Teilen mit der umbenannten SED liebäugelt. Natürlich nur aus Verantwortung. Man hat begriffen.
Freilich: Es gab und gibt sie, die Hermesianer in der Partei. Es sind diejenigen, die in den Augen ihrer Parteifreunde stehen geblieben sind, während andere „begriffen“ haben. Dabei verkörpern sie als einzige die Kontinuität in der CDU – wenn sie nicht riskieren wollen, daß die Christdemokratie den kalten politischen Opportunismus, wie ihn das parteieigne Video besingt, für nachmalige Generationen zur einzigen Erinnerung wird. Als Hermes im Frühjahr 1945 nicht wußte, was mit ihm geschehen würde, und dem eigenen Tod entgegensah, unterstrich er seine politischen und christlichen Überzeugungen in einem Abschiedsbrief: „Für nichts anderes und nichts weniger habe ich mich stets eingesetzt, als daß unserem Volke die unveräußerliche Grundlage christlicher Ethik erhalten bleiben möge und daß die in Gott gegründeten Menschenrechte der Gerechtigkeit, Freiheit, Würde und Ehre wieder als ein unantastbares Gut Achtung und Schutz finden mögen. Dafür habe ich gearbeitet und dafür werde ich sterben.“ 75 Jahre später steht die CDU dagegen vor der Frage, wofür sie noch lebt.