Herr Lucassen, vor kurzem sind Sie als Bundestagsabgeordneter in die Ukraine gereist. Gab es einen konkreten Anlaß dafür oder wollten Sie sich in erster Linie als Obmann Ihrer Fraktion im Verteidigungsausschuß ein eigenes Bild von der Lage dort machen?
Rüdiger Lucassen: Der Krieg in der Ukraine ist für die deutsche Regierungspolitik zum bestimmenden Faktor geworden. Energie, Flüchtlinge und vor allem die deutsche Verteidigungspolitik werden durch den Krieg seit fast einem Jahr definiert. Heraushalten ist für Deutschland deswegen keine Option. Wir sind nicht die Schweiz. Für mich heißt dies, daß die Bundesrepublik alles in ihrer Macht stehende einsetzen muß, um einen Waffenstillstand zu erreichen. Gespräche mit politischen Entscheidungsträgern der Kriegsparteien sind dafür eine Grundvoraussetzung. Das war mein Ziel.
Ganz praktisch gefragt: Wie sind Sie dorthin gereist, per Bahn oder mit dem Auto?
Lucassen: Ein ukrainischer Kollege, selbst Mitglied im ukrainischen Nationalparlament, hat mich aus Krakau mit seinem Auto abgeholt. Die Fahrt dauerte 14 Stunden und war recht abenteuerlich. Die Verbindungsstrecke nach Kiew ist zum Nadelöhr für das ganze Land geworden. Der Flug- und Seeverkehr ist blockiert. Somit wird die Versorgung des Landes mit Lkws durchgeführt. Am Grenzübergang stauten sich die Laster über 30 Kilometer. Die Fahrer verbringen teilweise bis zu einer Woche in ihrer Fahrerkabine, bis sie die Grenze passieren können.
„Versöhnliche Zukunft nur schwer vorstellbar“
Wann und woran haben Sie zuerst gemerkt: Wir befinden uns jetzt in einem Land, in dem Krieg herrscht?
Lucassen: Mit dem Übergang über die Grenze verändert sich die Situation. Die Ukraine ist fast vollständig verdunkelt. Das Stromnetz wurde großflächig bombardiert. Dörfer und kleinere Städte haben keine Elektrizität mehr, in den großen Städten wird ein kleiner Teil über Dieselgeneratoren ausgeglichen. Die ersten Kriegsschäden habe ich circa 50 Kilometer vor Kiew gesehen. Die Russen sind im März von Weißrußland aus auf die Stadt Schitomir zugestoßen. Von dort sollte Kiew in einer Zangenbewegung genommen werden. Auf beiden Seiten der Straße Richtung Kiew sind Tankstellen, Supermärkte und auch eine Klinik in Brand geschossen worden. Auch die Straßenschilder sind übermalt, um Entfernungsangaben unkenntlich zu machen.
Können Sie uns ein paar Eindrücke schildern? Kiew, eine moderne Großstadt – und dazwischen Bombenkrater und zerstörte Gebäude, Stromausfall und Luftalarm … wieviel vom Krieg haben Sie bei Ihrem Aufenthalt dort persönlich mitbekommen?
Lucassen: Es gab gleich am ersten Abend Luftalarm. Das Hotelpersonal blieb aber relativ gelassen und ich auch. Ansonsten sind die Angriffe auf Kiew sehr gezielt. Flächenbombardements wie auf deutsche Städte im Zweiten Weltkrieg gibt es nicht. Die russischen Streitkräfte greifen mit ihren Raketen und Drohnen vor allem die Stromversorgung und Regierungsgebäude an. Das macht es, bei aller Dramatik für die Bevölkerung, einigermaßen kalkulierbar. Ich habe allerdings auch die Straßenkreuzung gesehen, auf der im November eine russische Rakete 14 Menschen getötet hat, die in ihren Autos saßen. Kiew ist keine Frontstadt, aber eine Stadt im Krieg.
Von außen hat man den Eindruck, daß bei den meisten Ukrainern der Wunsch, sich erfolgreich gegen den russischen Angreifer zu behaupten, größer ist als die Sehnsucht nach Frieden. Können Sie das aus Ihren Gesprächen bestätigen?
Lucassen: Absolut ja. Die Ukrainer wollen kämpfen. Nach meinem Besuch fällt es mir auch sehr schwer, mir eine versöhnliche Zukunft zwischen beiden Ländern vorzustellen. Sollte es sie irgendwann geben, wird es viel Arbeit und viel Verzeihen bedürfen und sicherlich zwei Generationen dauern. Hinzu kommt, daß die ukrainische Regierung den Einfluß Rußlands, in Teilen sogar alles Russische, massiv zurückdrängt. Ein Beispiel ist die Enteignung der russisch-orthodoxen Kirche im Land. Alle Kirchengebäude wurden enteignet und der neu gegründeten orthodoxen Kirche der Ukraine übergeben. In vielen Bereichen werden jetzt Fakten geschaffen, die nicht umkehrbar sind.
„Schnell zum Punkt und ohne Geschwurbel“
Sie hatten auch Gelegenheit, mit Politikern und hochrangigen Vertretern der Regierung in Kiew zu sprechen?
Lucassen: Es war ein sehr hochwertiges Programm. Ich sprach mit dem stellvertretenden Verteidigungsminister, dem stellvertretenden Innenminister, dem Minister für Infrastruktur und dem Vorsitzenden und Mitgliedern des Verteidigungsausschusses. Daneben auch mit dem Leiter des staatlichen Stromversorgers. Alle Gespräche hatten eines gemeinsam: Schnell zum Punkt und kein politisches Geschwurbel. Etwas, was man in Deutschland nicht mehr gewöhnt ist, ich aber sehr zu schätzen weiß.
Wenn Sie zusammenfassen könnten: Wie haben Ihre Gesprächspartner die Lage des Landes dargestellt, waren sie zuversichtlich oder eher beunruhigt, vor welchen möglichen Szenarien oder Eskalationen macht man sich dort Sorgen?
Lucassen: Grundsätzlich habe ich Zuversicht gespürt, aber auch eine realistische Einschätzung der eigenen Lage. Alle Gesprächspartner baten natürlich um Unterstützung, hatten auf der anderen Seite aber auch Verständnis für die unsere Position. Ich habe beispielsweise in allen Gesprächen deutlich gemacht, daß wir eine weitere Plünderung der Bundeswehr zur Belieferung der Ukraine mit Waffen nicht unterstützen. Was die Kriegsführung Rußlands betrifft, erwartet Kiew eine erneute Offensive spätestens zum Ende des Winters.
Wie haben die Ukrainer, mit denen Sie sprachen, die Rolle Deutschlands wahrgenommen? Einerseits scheinen die von Berlin gelieferten Panzerhaubitzen und „Geparden“ der ukrainischen Armee gute Dienste zu erweisen, andererseits gibt es Kritik an der Weigerung, mehr schwere Waffen wie etwa Kampfpanzer zu liefern …
Lucassen: Deutschland hat in der Ukraine einen guten Stand. Viele sehen Deutschland nach dem Ende des Krieges als einen wichtigen strategischen Partner. Auf der anderen Seite verfügt die Ukraine über immense wirtschaftliche Ressourcen und eröffnet damit ungeahnte Möglichkeiten. Das Thema „Kampfpanzer“ war natürlich präsent, wurde aus meiner Sicht aber nur pro forma erwähnt. Kiew weiß, daß Bundeskanzler Scholz nicht liefern will und daß eine Richtungsänderung von anderen Faktoren abhängt. Daß eine Nation im Krieg immer mehr Waffen fordert, als geliefert werden, liegt in der Natur der Sache.
„Endsieg-Rhetorik bei FDP und Grünen ist gefährlich und feige“
Wurde in den Gesprächen auch die Positionierung der AfD, die ja von vielen als eher rußlandfreundlich wahrgenommen wird, thematisiert?
Lucassen: Nein. Die ukrainischen Regierungsvertreter empfingen mich als Mitglied des Deutschen Bundestags und Verteidigungsausschusses. Mein Eindruck war, daß die Ukrainer keine Kapazitäten haben, sich um die Parteipolitik anderer Länder zu kümmern. Alle Ressourcen gehen in die Führung dieses Kampfes. Durch den Krieg ist es natürlich auch innerhalb der Ukraine zu einer starken Solidarisierung im Volk gekommen. Streit und parteipolitische Rivalitäten, so sagten es mir viele Gesprächspartner, sind einer großen Hilfsbereitschaft gewichen.
Abschließend: Hat diese Reise konkrete Folgen für Ihre Arbeit in Berlin? Welche politischen Schlüsse ziehen Sie aus dem, was Sie vor Ort dort gesehen und gehört haben?
Lucassen: Als AfD sagen wir seit dem Überfall der Russen, daß dieser Krieg so schnell wie möglich beendet werden muß. Die „Endsieg-Rhetorik“, die ich teilweise bei FDP und Grünen wahrnehme, halte ich für gefährlich und auch feige. Denn es sind nicht die Kinder der grünen Partei-Elite, die am Dnepr verbluten, sondern ukrainische und russische Söhne und Töchter. Für die AfD sind allerdings auch die nationale Identität und der große Wille zur Selbstbehauptung der Ukrainer ein großartiger Nachweis vieler unserer politischer Kernforderungen. Beides bleibt somit richtig: Waffenstillstandsverhandlungen und Selbstbestimmungsrecht der Ukraine. So wie bei allen anderen Völkern auch.
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Rüdiger Lucassen, Jahrgang 1951, ist seit 2017 Mitglied des Bundestags, Verteidigungspolitischer Sprecher der AfD-Fraktion und deren Obmann im Verteidigungsausschuß. Zuvor war er über 30 Jahre Berufsoffizier in der Bundeswehr, zuletzt als Oberst im Generalstabsdienst.