Der Ukraine-Krieg tobt seit knapp vier Monaten. Nach den anfänglichen Abwehrerfolgen der ukrainischen Verteidiger konzentrieren sich die Kämpfe nun auf den Donbass. Moskau mußte einsehen, daß eine schnelle Eroberung von Kiew nicht möglich ist. Nun prägen zerstörerische Kämpfe um Städte und ein langsames Vordrängen der russischen Truppen das Geschehen.
Für die JUNGE FREIHEIT beantwortet der Militärexperte Alexander Jag immer wiederkehrende Fragen zum Kriegsgeschehen. Er ist Büroleiter des privaten Sicherheitsunternehmens Global AG, das unter anderem in Afghanistan, Israel und vor Ausbruch des Krieges auch in der Ukraine tätig war.
Herr Jag, aktuell bittet der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die westlichen Staaten um moderne Flugabwehrsysteme. Immer wieder tauchte in der Debatte hierzulande das Argument gegen solche Lieferungen auf, daß in der Ukraine womöglich das entsprechend ausgebildete Personal fehle, um diese Waffen zu bedienen. Halten Sie das Argument für richtig?
Alexander Jag: Da müssen wir uns zunächst mal entscheiden. Wir haben einerseits die Sorge, daß diese Waffensysteme den Russen in die Hände fallen könnten, diese die dann auseinander- und nachbauen und selbst nutzen. Das trauen wir den Russen zu. Den Ukrainern trauen wir andererseits aber nicht zu, diese Waffensysteme selbst zu bedienen — sei es durchs Lesen von Handbüchern oder durch Ausbilder, wie sie beispielsweise in den Reihen der ukrainischen Fremdenlegion sind. Das Argument gegen entsprechende Waffenlieferungen ist an den Haaren herbeigezogen.
Man vergleiche das mit den Taliban. Die haben im Gegensatz zur Ukraine keine eigene technische Industrie. Und dennoch ist es ihnen, die vom technischen Verständnis her deutlich hinter der Ukraine stehen, schnell gelungen, erbeutete amerikanische Waffensystem zu verstehen und zu nutzen.
„Halbleiter machen Panzer schlau“
Die Ukrainer wären in wenigen Wochen in der Lage, moderne westliche Waffensysteme mit eigenem Personal zu nutzen. Noch schneller ginge es mit entsprechenden Ausbildern. Nebenbei: Vor dem Krieg wurde viel der russischen Militärtechnik in der Ukraine entwickelt.
Westliche Beobachter gehen mittlerweile davon aus, daß den russischen Angreifern ihre Präzisionswaffen ausgehen. Daher setze das russische Militär nun verstärkt ältere Raketen ein. Halten Sie die russischen Arsenale an Präzisionswaffen ebenfalls für erschöpft? Oder könnte es der Plan sein, durch solche ungenauen Waffen mehr Zerstörung und Kollateralschäden zu verursachen – quasi als Teil der eigenen Strategie?
Jag: Das ist ein Problem der Technik. Die Russen selbst stellen keine Halbleiter her – die drei weltweiten Halbleiterproduzenten sind die USA, China und Taiwan. Und Halbleitersysteme sind, was beispielsweise Panzer schlau macht, sprich: Feuerleitsysteme, Aktivpanzerungssysteme. Das fehlt Rußland, seitdem das Land 2014 als Folge der Krim-Krise sanktioniert wurde und wird. Auch der berühmte russische Panzer Armata T-14 ist beispielsweise darauf angewiesen. Ohne Halbleiter ist auch der nur eine Metallwanne mit Kanone und Motor.
Das gilt ähnlich übrigens auch für Raketen und Drohnen. So ist auch die Orlan-10-Drohne der Russen aus westlichen Bauteilen zusammengesetzt, zum Beispiel Kameras, Wärmebildgeräten und ähnlichem. Solche Komponenten fehlen Moskau durch die Sanktionen nun. Beispielsweise haben sich einige westliche Waffenhändler aus Frankreich und Deutschland über das Embargo hinweggesetzt und auch nach 2014 noch Geschäfte mit Rußland gemacht. Doch seit dem Kriegsausbruch im Februar haben sich solche Händler zurückgezogen aus Angst vor den Folgen, wenn sie erwischt werden. Die Russen stecken gerade technologisch richtig in der Klemme.
Deshalb sind die Arsenale der Russen an Präzisionswaffen erschöpft. Es kommt wegen der Sanktionen auch kein Nachschub mehr herein. Als Beispiel seien die Hyperschallraketen genannt, von denen Rußland ein paar Dutzend hatte. Nun haben sie während des Krieges bereits einige verbraucht. Da diese Waffen ebenfalls von westlichen Bauteilen abhängen, schrumpfen die Bestände weiter. Daher ist der Kreml jetzt gezwungen, wie im Zweiten Weltkrieg auf analoge Kriegsführung zu setzen.
„Ein ethnischer Konflikt wie zwischen Israel und Palästina“
Das erklärt auch, weshalb es bei den russischen Angriffen zu hohen Kollateralschäden kommt. So bestreichen beispielsweise die fahrbaren Raketenwerfer der Russen mit ihren Salven ein Gebiet von rund 800 mal 800 Metern und richten entsprechende Schäden an. Da es sich dabei aber nicht um eine Präzisionswaffe handelt, muß unter Umständen noch mit mehreren Salven nachgelegt werden, bis das anvisierte Ziel zerstört ist.
Es ist nicht ganz sicher, ob es bei den Russen einen Befehl gibt, die Zivilbevölkerung zu terrorisieren. Allerdings ist davon auszugehen, daß die Ukrainer für ihren Widerstandsgeist abgestraft werden sollen.
Können Sie das erläutern?
Jag: Es darf nicht unterschätzt werden, wie fanatisch der Widerstandswille der Ukrainer ist. Seit der Krim-Besetzung hat sich in dem Land auch ein ethnischer Konflikt mit Rußland manifestiert, der den Verteidigungsgeist angefacht hat. Wie jetzt Widerstand geleistet wird, ist daher auch unabhängig von der aktuellen Regierung. Selbst wenn Präsident Selenskyj getötet oder schwer verwundet würde und mit ihm seine Regierung, die ukrainische Bevölkerung würde weiterkämpfen. Derzeit halte ich eher den Nahost-Konflikt für lösbar als das, was sich da zwischen der Ukraine und Rußland abspielt. Denn hier hat sich ein ethnischer Konflikt entzündet wie zwischen Israel und den Palästinensern, wenn nicht schlimmer.
Welche Rolle spielt die Zivilbevölkerung dabei?
So gesehen ist auch die Haltung der russischen Truppen, daß es in der Ukraine derzeit keine Zivilisten gebe, nicht ganz falsch. Denn jeder in der Ukraine fühlt sich in der Pflicht, sein Land zu verteidigen. Das wird auch deutlich an im Ausland lebenden Ukrainern, die zum Kämpfen zurückkehren oder Frauen, die durch Logistik, Versorgung und das Weiterleiten von Spenden ihren Beitrag zum Krieg leisten. Selbst Kinder helfen mit, Tarnnetze zu nähen.
Die russischen Truppen beschießen daher gezielt potentielle Nachschub- und Logistikziele im Land, da sie verhindern wollen, daß die Unterstützung an der Front ankommt. Aufgrund dieser Taktik kommt es dann auch zu den zivilen Opfern. Doch dieser taktische Terrorismus ist derzeit die einzige Möglichkeit, wie Rußland versuchen kann, auf den Nachschub des Feindes Einfluß zu nehmen. Es ist jedoch ein aussichtsloses Unterfangen angesichts der vielfältigen ukrainischen Nachschubwege. Trotz der Verluste gibt es allerdings keine Kriegsmüdigkeit unter den Ukrainern.
„Der T-14 wird wahrscheinlich eingemottet“
Von Militärexperten ist darüber spekuliert worden, warum Rußland bislang seinen Armata-T-14-Panzer in der Ukraine nicht eingesetzt hat. Spekulationen reichen von nicht behobenen technischen Mängeln, der Befürchtung, liegengebliebene Exemplare könnten dem Feind in die Hände fallen bis zur Theorie, der Kreml spare den T-14 für spätere Offensiven auf. Was halten Sie für realistisch?
Jag: Die modernen russischen Panzer beruhen alle auf westlichen und fernöstlichen Halbleitern. Die fehlen ihnen seit 2014 zunehmend. Daher verzichten die Russen jetzt darauf, ihre modernen Panzer aufs Schlachtfeld zu bringen. Denn ein Panzer braucht Augen und Ohren, Krallen und Zähne, und ohne die Technik ergibt es keinen Sinn, ihn an die Front zu bringen. Er wäre reines Kanonenfutter. Angesichts der intelligenten Leitsysteme der Panzerabwehrwaffen Javelin und NLAW der ukrainischen Verteidiger ist der Panzer in diesem Krieg weitgehend obsolet geworden.
Für Rußland wäre es auch ein Horrorszenario, wenn ein T-14 dem Feind in die Hände fiele. Denn mit der entsprechenden Technik aus dem Westen könnte der dann neu ausgerüstet werden. Damit wären die Russen blamiert, da es ihnen nicht gelungen ist, den Panzer aufs Feld zu bringen. Das wäre ein PR-Super-Gau für sie.
Es ist davon auszugehen, daß Moskau derzeit über ein paar Dutzend Armata T-14 verfügt. Das liegt auch an den begrenzten Produktionskapazitäten. Daher gehe ich auch nicht davon aus, daß er noch für spätere Offensiven in der Ukraine zurückgehalten wird. Er wird wahrscheinlich eingemottet.
Die ukrainische Armee galt lange als schlecht ausgerüstet und wenig motiviert. Was hat der Krieg an dieser Situation verändert? Können Sie etwas zum Ausbildungsniveau der ukrainischen Armee sagen? Wie schätzen Sie deren Fähigkeiten ein?
Jag: Das Urteil galt bis vor 2014, bis zur Annexion der Krim sowie Donezk und Luhansk. Zuvor hatte sich die Ukraine auf dem Budapester Memorandum ausgeruht, das ihre Sicherheit garantieren sollte. Doch seitdem hat die Ukraine mit der Aufrüstung angefangen. Dazu gehörte beispielsweise auch, daß die Global AG durch einen Staatsauftrag dort im Bereich der Ausbildung der Streitkräfte tätig geworden ist.
Dazu möchte ich anmerken: Man kann innerhalb weniger Monate aus Laien eine Spezialeinheit formen. Das ist keine Wissenschaft, wenn sie die Voraussetzungen erfüllen. Die meisten Ukrainer sind physisch sehr stark, weil sie als Kinder oft in Boxschulen gegangen sind. Zudem hat die mangelnde Rechtssicherheit der vergangenen 20 Jahre die meisten Ukrainer mental fit gemacht, da sie sich durchsetzen mußten.
„Die Ukrainer haben kämpfen gelernt“
Die ukrainischen Truppen sind nun im Krieg sehr einfallsreich. Sie improvisieren dazu beispielsweise beim Einsatz von zivilen Drohnen. Diese setzen sie mit Sprengmitteln als Waffen ein oder nutzen sie zur Aufklärung für ihre eigene Artillerie im Feld. Dabei sind sie fast so gut wie militärische Aufklärungsmittel.
Kurz gesagt sind die Ukrainer gutes Humanmaterial für die Ausbildung. Sie waren sehr gut geeignet, in eine westliche Armee umgewandelt zu werden. Das ist seit 2014 passiert.
Dazu kommen auch noch eigene Waffen wie die Malyuk-Sturmgewehre aus ukrainischer Produktion sowie eigene Panzerabwehrwaffen wie die Stugna-P. Wir sehen dabei auch weitere Waffentechnik aus ukrainischer Produktion, die in den vergangenen Jahren geschaffen wurde. Damit sind sie dem durchschnittlichen russischen Verband überlegen.
Wie gut sind ukrainische Einheiten im Vergleich zu denen der Nato?
Jag: Seit 2014 haben die Ukrainer kämpfen gelernt. Ich kenne sehr viele sehr gute Jungs, die auch selbst als Ausbilder im Ausland westliche Einsatzkräfte fortgebildet haben. Wenn Ukrainer nach acht Jahren schon westliche Spezialeinheiten unterweisen, dann muß man sagen, entweder ist bei uns gewaltig was schiefgelaufen oder bei den Ukrainern ist gewaltig was gut gelaufen. Letzteres ist der Fall.
Die Ukrainer haben die Leidensfähigkeit, den Kampfeswillen und die Kampfesmoral sowie die Risikofreude. Das ist dort in der Ukraine eine moderne Armee wie aus dem Lehrbuch. Sie sind auf dem Stand einer durchschnittlichen Nato-Armee.
Zu ihrem Erfolg trägt aktuell bei, daß sie den immensen Rückhalt aus der Bevölkerung haben, daß sie einen Verteidigungskrieg führen, der der defensiven Seite Vorteile verschafft. Zudem haben sie den Vorteil, daß sie den Krieg des 21. Jahrhunderts im Zeitalter der Präzisionswaffen führen gegen einen Gegner, der von der Ausrüstung und der Taktik her noch im 20. Jahrhundert steckt. Daher sollte man die Ukrainer derzeit aber auch wegen ihrer Erfolge nicht überschätzen.
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Der zweite Teil des Interviews erscheint am Montag.