Der Ukraine-Krieg tobt auch zu Wasser. Dabei geht es beispielsweise um die Blockade der Häfen durch die russische Marine. Kriegsschiffe sind allerdings nicht entscheidend, sagt der Militärexperte Alexander Jag im zweiten Teil des Interviews mit der JUNGEN FREIHEIT. Und welche Rollen spielen eigentlich die ausländischen Freiwilligen, die zu Beginn des Krieges große mediale Aufmerksamkeit erfahren haben? Und wie sieht die russische Strategie für den Winter aus?
Viel ist anfangs des Krieges über den Einsatz von ausländischen Freiwilligen in einer eigens aufgestellten ukrainischen Fremdenlegion spekuliert worden. Haben Sie Informationen, wie viele Ausländer dem Ruf gefolgt sind und wie sie sich schlagen?
Jag: Offiziell sind derzeit 30.000 Mitglieder der ukrainischen Fremdenlegion im Land aktiv. Es sollen auch noch die gleichen Leute wie zu Beginn des Krieges sein, eine Rotation wird jedoch wohl bald stattfinden. Anderenfalls wären auch die physischen Belastungen nach den Monaten im Einsatz an der Front zu hoch.
„Das größere Problem sind die Minen“
Insgesamt dürften sich aber rund 60.000 ausländische Kämpfer in der Ukraine aufhalten. Es gibt ja noch Einheiten wie beispielsweise die georgische, tschetschenische und dagestanische Legion und weitere Einheiten; also viele Truppen aus anderen Ländern, die in deutschen Medien nicht vorkommen. Zu erwähnen ist auch die Einheit „Freies Rußland“, die aus übergelaufenen Russen besteht, die nun für die Ukraine kämpfen.
Von den Kämpfern der internationalen Legionen haben viele die Fähigkeit, mit westlichen Waffensystemen umzugehen. Somit können sie bei entsprechenden Waffenlieferungen der US-Amerikaner, Franzosen und Briten das Material übernehmen und gleich loslegen. Das gilt auch für Panzer wie den Marder.

Aufgrund der ausbleibenden Weizen-Exporte aus der Ukraine befürchten Experten eine weltweite Hungersnot. Hat die Ukraine die Möglichkeit nach der Versenkung des russischen Flaggschiffs „Moskwa“ die Blockade ihrer Häfen zu durchbrechen? Wie stellt sich der Seekrieg allgemein dar?
Jag: Das Problem beim Thema Getreideversorgung der Welt aus der Ukraine ist weniger ein logistisches Problem. Denn das Straßennetz ist intakt. So könnten Weizen, Mais und ähnliches mit LKW transportiert werden. Das Problem ist die Existenz des Getreides, der Lebens- und Futtermittel.
Denn es gehört auch zur russischen Strategie, den Hunger als Waffe einzusetzen. Dazu werden Nahrungslager gezielt bombardiert und Felder abgebrannt. Wie gesagt, es geht weniger um logistische Probleme in dem Zusammenhang der Getreideversorgung. So gesehen ist eine Hafenblockade da nur ein Baustein.
Das Problem bei Hafenblockaden sind auch nur zum Teil die Schiffe, der andere Teil sind Minen. Denn die Russen haben ihre Schiffe bereits weitgehend zurückgezogen. Sie müssen nämlich davon ausgehen, daß die Ukrainer über britische und dänische Anti-Schiffsraketen verfügen, die eine hohe Reichweite haben. Die Versenkung der „Moskwa“ ist so ein Beispiel. Die Minen sind das größere Problem bei der Verschiffung von Getreide.
Wie sehen Sie die weitere Entwicklung des Krieges? Wird es einen Abnutzungskrieg geben? Falls ja, wer hätte da die besseren Chancen?
Jag: Die russische Strategie sieht vor, den Krieg bis Anfang Januar am Leben zu erhalten. Denn dann setzen die Minusgrade in der Ukraine ein. Da reden wir von bis zu Minus 25 Grad, mitunter bis zum März. In der Zeit würden Angriffe auf Heizwerke und Nahrungslager dazu führen, daß die Bevölkerung bei geschätzten Minus 15 Grad Zimmertemperatur ohne Nahrung in ihren Häusern ausharren müßte. Das wäre dann ein Genozid, bei dem das Wetter die Dreckarbeit erledigt. In dem Kalkül würden die Ukrainer dann im Frühjahr geschwächt aufgeben oder wären nicht mehr zur Gegenwehr fähig.
Wie kalkuliert die Gegenseite?
Jag: Der Westen hingegen will den Krieg daher bis zum Winter beenden. Daher wird es nochmal eine Flut von Waffenlieferungen an die Ukraine geben. Auch pazifische Staaten wie Japan, Korea und Australien beteiligen sich daran. So könnte sich die Kriegslage insgesamt bis zum Winter ohne Androhung des Einsatzes von Atomwaffen stabilisiert haben.
Sollte das dem Westen nicht gelingen, wird es wohl im Frühwinter zum Einsatz von Nato-Truppen in der Ukraine kommen. Dann wäre das Ziel, den Krieg über den Winter einzufrieren und das Land zu stabilisieren, damit die Ukrainer nicht erfrieren und im Frühjahr würden die Kämpfe schlimmstenfalls von Neuem aufflammen.

„Rußland ist schwächer als es die Sowjetunion war“
Im Moment ist es ein Abnutzungskrieg mit Materialschlachten wie im Zweiten Weltkrieg an der Ostfront. Die Vorteile liegen dabei auf Seiten der Ukraine. Da das Land einen Verteidigungskrieg um seine Existenz führt, kann es fast hundert Prozent seiner Ressourcen und seines Humankapital aktivieren. Nach Schätzungen stehen derzeit eine Million Menschen in der Ukraine unter Waffen. Insgesamt hat die Regierung Zugriff auf rund 15 Millionen Männer zwischen 18 und 60 Jahren. Aber auch Frauen melden sich zur Armee.
Moskau hingegen hat das Problem, seine Leute überhaupt motivieren zu müssen, da es nicht bedroht ist. Zudem ist Rußland heute schwächer als es die Sowjetunion war und weniger ideologisch radikalisiert. Dabei gilt zu bedenken: Die Sowjets mußten sich nach einem langen Guerrillakrieg geschlagen aus Afghanistan zurückziehen.
Wie sehen Sie die Chance, daß die Ukraine eine Gegenoffensive starten kann? Welche Voraussetzungen müßten dafür erfüllt sein?
Jag: Jetzt im Sommer wird es noch verschiedene Gegenoffensiven der Ukrainer geben. Aber wirklich strategische Gegenoffensive starten erst dann, wenn die meisten westlichen Waffen angekommen sind. Das könnte dann Spätherbst bis Frühwinter werden. Das Ziel wird dann der Donbass sein. Am Ende dessen wird nicht nur der Donbass, sondern auch Donezk und Luhansk wieder ukrainisch sein.
Die Krim wird nicht angegriffen werden. Die wird vielmehr über einen jahrelangen Prozeß mittels „soft power“ zurückgeholt. Es sind ja gerade 700 Milliarden Dollar russischen Vermögens eingefroren. Womöglich wird der Internationale Gerichtshof dieses Geld nach dem Krieg quasi als Enteignung der Ukraine für Reparationen zugeschlagen. So kann das Land mit dem Geld seinen Wiederaufbau bestreiten und wird sich damit auch verbessern. Gleichzeitig wird Rußland durch die bestehenden Embargos immer ärmer und der Lebensstandard sinkt dort weiter.
Diese Entwicklung wird auch auf der Krim registriert werden, wo man sich dann wieder von Moskau abwenden wird. Und wenn es zehn Jahre dauert, die Krim wird irgendwann freiwillig zur Ukraine zurückkommen; schon aufgrund des dort höheren Lebensstandards. Denn der Mercedes und das iPhone sind attraktiver als ein rostiger Lada und ein Mobiltelefon aus gelbem Plastik.