Fünf Jahre nach dem Mauerfall erschienen, verschwand Rolf Peter Sieferles Großessay „Epochenwechsel“ erwartungsgemäß im Wust jener journalistischen Schnellschüsse, die unter kräftiger auftrumpfenden Titeln ihre Glaskugelprognosen zur neuen Weltlage, zum nahenden „Kampf der Kulturen“ oder zum „Ende der Geschichte“ offerierten.
Immerhin gestand ihm eine Hamburger Gutmenschenpostille „beeindruckende Sachkompetenz und stilistische Prägnanz“ zu, beklagte aber, daß der sich vom „Projekt der Moderne“ verabschiedende Autor, wie so viele „alte Kämpfer“ der universalistischen Aufklärung, ins nationalistische Lager der Partikularisten übergelaufen sei, um der „Ausgrenzung der Fremden“ das Wort zu reden (Die Zeit, 44/1994).
Nun liegt das Werk in einer vom Autor 1998 überarbeiteten Fassung als erschwingliche Neuauflage vor. Wie jede klassische Anatomie der Moderne, so behält auch diese an Karl Marx und Carl Schmitt geschulte Gegenwartsdiagnose über die Entstehungszeit hinaus ihren analytischen Wert. Da die von der Globalisierung geformten „Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters“ (Fichte) mittlerweile den Alltag „abgehängter“ Provinzen diktieren, wirkt dieses Pionierwerk, das zu den ersten und besten Erzeugnissen des Genres „Globalisierungskritik“ zählt, so frisch, als sei es gestern geschrieben.
Globalisierung benötigt kein Volk, keine Nation, keine Bildung
Wie seitdem üblich, beschreibt Sieferle das 1994 noch junge Phänomen Globalisierung als Entnationalisierung der Wirtschaft. Die seit dem 17. Jahrhundert in Europa und Nordamerika entstandenen „Volkswirtschaften“ bildeten seit den 1970ern ökonomische Strukturen aus, die eine sukzessive Verlagerung von großen Teilen der industriellen Produktion in die profitableren Niedriglohnzonen des globalen Südens erlauben. „Internationale Arbeitsteilung“ heißt das im neoliberalen Jargon des politisch-medialen Komplexes, der dieses nomadische Abweiden menschlicher und natürlicher Ressourcen als „Schicksal“ verkauft.
In China stehen daher jetzt die Fabriken von Apple und Google, von Bangladesch bis Äthiopien nähen Frauen für einen Euro am Tag Kleider und Hosen für Hugo Boss & Co. Diese von Miniaturisierung und Digitalisierung begünstigte und beschleunigte Entkopplung der Produktion von ihrer nationalen Basis löst traditionelle Gesellschaften im Salzsäurebad der „Verbrennungswirtschaft“ (Robert Kurz) auf.
Für Sieferle gehorcht diese Transformation der tradierten, halbwegs dem Gemeinwohl verpflichteten Wirtschaft der inhärenten Logik der universalisierten Selbstzweckökonomie. Sie benötigt den überkommenen „Plunder“ von Volk, Nation, Kultur, Bildung nicht mehr. Sie organisiert sich allein durch „Sachzwänge“ und integriert die einstigen „bürgerlichen Subjekte“ ausschließlich als Funktionsträger in ihre subjektlose Weltmaschine.
Verwandlung der Menschheit in Lumpenproletariat
Der neue, lohndrückenden industriellen Reservearmeen stets „weltoffen“ gegenüberstehende soziale Synthesemodus pfeift auf verbindliche Tugenden und entbehrt gern ein übergeordnetes Ganzes wie Gott oder Vernunft. Mensch ist Mensch, Funktion ist Funktion, laute die Multikulti-Botschaft des Kapitals. Wie schon von Ralf Dahrendorf befürchtet, räumt das „funktionelle System“ auch mit „Demokratie, Rechtsstaat, Wohlfahrtsstaat, Zivilgesellschaft“ gründlich auf. In Zukunft geht es kostensparend „postdemokratisch“ zu.
Damit erledigen sich, so Sieferles pessimistische Prognose, alle konservativ wie progressiv motivierten politischen Unternehmungen einer „Re-Normativierung“ der Welt. Zumindest dadurch sei der globalisierte „Amoklauf des Rentabilitätsprinzips“ (Robert Kurz) nicht zu stoppen, der in letzter Konsequenz zur Wegrationalisierung des Menschen, zur „Antiquiertheit der Arbeit“ (Günther Anders), und zur Verwandlung der Menschheit in Lumpenproletariat führen müsse. Was sich in den deindustrialisierten, von „Überflüssigen“ bewohnten Regionen des Nordens bereits ankündigt.
Globalisierung hinterläßt überall nur Verlierer
Hier setzt sich fort, was Chalmers Johnson für die Dritte Welt resümiert: „Keinem Land“ habe die Globalisierung dort mehr Wohlstand beschert, überall hinterlasse sie nur Verlierer. Das das Leben auf Profitmaximierung reduzierende „funktionelle System“ sieht Sieferle in schönem Gleichklang mit Linken wie Elmar Altvater und Birgit Mahnkopf („Grenzen der Globalisierung“, 1996) darum auf dem Weg in die menschenunwürdigste Gesellschaftsverfassung, die die absolute Mehrheit der Weltbevölkerung mit einiger Wahrscheinlichkeit in den Zustand „faktischen Dahinvegetierens“ zurückstößt.
Die Berliner Republik hat sich für diese kulturlosen Zeiten schon rundum globalisierungstauglich präpariert. Denn kein anderes westliches Land habe sich so radikal vom kontinuierlichen Lebensstrom, der aus der Vergangenheit in die Zukunft fließt, abgetrennt wie Deutschland. Die Bundesrepublik sei ein „vollständig gegenwärtiges Land ohne reale, gelebte, aktive Vergangenheit“. Kein anderes Land füge sich deshalb perfekter ins „funktionelle System“.
Ein Ende der Geschichte werde aber auch die One- World-Ökonomie nicht erreichen. Vielmehr dürfte sie noch im Laufe unseres Jahrhunderts an ihren inneren Widersprüchen zerbrechen. Weder könne sie die ökologischen Grenzen des Wachstums durchbrechen, noch bekomme sie die afrikanisch-arabische Bevölkerungsexplosion in den Griff. Ihr Untergang, in den sie die hochentwickelten Kulturen Europas mitziehe, sei also unvermeidlich.
Kehre hin zur mehrpolaren Weltordnung
Tatsächlich ist es jedoch keineswegs ausgemacht, daß das funktionelle System „unaufhaltsam“ expandiert. Hier billigt der Hegelianer Sieferle der Globalisierung, die er merkwürdig ahistorisch zur anonym-autonomen Macht hypostasiert, allzu bereitwillig zu, die Logik der Geschichte zu vollstrecken. Wie Thomas Hoof in seinem Nachwort einwirft, hätte Sieferle schon geraume Zeit vor seinem Freitod im September 2016 Hoffnung aus der Entstehung von „Gegenkräften“ aus traditionellen Gesellschaften schöpfen dürfen.
Geopolitisch sei etwa die von „angelsächsischen Oligarchen“ angestrebte unipolare Weltordnung an der von China und dem Iran gedeckten russischen Intervention in Syrien soeben gestoppt worden. Hoof wertet dies als „echte Kehre“ weg vom One-World-Kapitalismus hin zur mehrpolaren Weltordnung. Zudem gebe es für den von globalistischen Ideologen als „humanitäre Hilfe“ drapierten Einmarsch Millionen kulturfremder Versorgungssuchender ins deutsche Sozialsystem keinen alternativlosen Automatismus.
Es gelte auch hier die Dialektik von Spiel und Widerspiel. Welche Stärke die anti-universalistischen Gegenkräfte Europas auf diesem Politikfeld entfalten, hängt aber nicht zuletzt von ihrer Bereitschaft ab, einen wirklich fundamentalen „Epochenwechsel“ einzuleiten.
JF 52/17