Auf einer ganzen Seite druckte der Plauener Sonntags-Anzeiger Mitte Januar 1915 Briefe mit Schilderungen über „Weihnachten im Felde“. Zu lesen war etwa: „Am Heiligen Abend sangen wir Weihnachtslieder und spielten Mundharmonika. Die Engländer schossen nicht und haben ebenfalls zugehört. Da wurde ’nüber und herüber gerufen (…) und es dauerte nicht lange, da kamen die Engländer aus ihren Schützengräben herüber zu uns. Sie meinten, wir sollten nur Musik machen und dazu singen, das klänge so schön.“
Es dürfte sich hier um eine Rarität handeln, denn Darstellungen der Vorgänge, die als „Weihnachtsfrieden“ von 1914 in die Geschichte eingegangen sind, waren bald der Zensur unterworfen. Nicht ein Foto wurde in Deutschland gedruckt. In offiziell geführten Aufzeichnungen wurden die Ereignisse ignoriert oder marginalisiert. Zu stark war die Gefahr, das Ganze könne zu Nachahmung und Fortsetzung einladen, was kaum im Sinne der Kriegführung gewesen wäre. Insbesondere zwischen Deutschen und Briten war es vor allem am Heiligen Abend und am Weihnachtstag 1914 nicht nur zum Waffenstillstand, sondern darüber hinaus zu einer Reihe Begegnungen gekommen, oft hart an der Grenze zur Fraternisierung.
Die Vorgänge fanden an verschiedenen Orten statt, ein konkret auslösendes Ereignis war nicht erkennbar. In dem Abschnitt nahe der im Ersten Weltkrieg heftig umkämpften Stadt Ypern lagen sich Deutsche und Briten seit Herbst 1914 gegenüber. Die Frontline war erstarrt, beide Seiten hatten sich in ihren Schützengräben verschanzt, mitunter nur wenige Dutzend Meter voneinander entfernt. Obwohl sich die Berichte über den „Weihnachtsfrieden“ und gerade über die spektakulären Vorgänge stark auf diesen Bereich konzentrieren, wird doch davon ausgegangen, daß es vergleichbare Zusammentreffen, wenn auch in abgeschwächter Form, entlang der gesamten Westfront gegeben hat.
Initiativen zum „Weihnachtsfrieden“ gingen von Deutschen aus
Da nicht nur die Deutschen, sondern alle kriegführenden Mächte bestrebt waren, die Informationen zu unterdrücken, lediglich aus der britischen Presse war mitunter etwas mehr zu erfahren, und das Interesse der historischen Forschung an den Phänomenen eher überschaubar ist, prägt bis heute eine Vielzahl von Einzelüberlieferungen das Bild des „Weihnachtsfriedens“. Mitunter handelt es sich um erst sehr spät dokumentierte Erinnerungen, nicht alles ist zuverlässig, mehrere Geschichten existieren in verschiedenen Varianten. So heißt es etwa einmal, ein Schokoladenkuchen sei von deutscher Seite den Briten als Weihnachtsgeschenk zugedacht gewesen.
Ein andermal, daß sächsische Soldaten bereits einige Zeit vor dem Heiligen Abend aus ihrer Stellung bei Armentières einen Schokoladenkuchen zu den Briten geworfen hätten. Versehen mit einem Zettel, auf welchem man um eine einstündige Waffenruhe am Abend bat, man wolle dem Hauptmann zu dessen Geburtstag ein Ständchen bringen. Die Briten haben sich zugänglich gezeigt und am Ende sogar applaudiert.
24 December 1914. German and British soldiers began an unofficial truce on Christmas Eve on the western Front. During this unofficial ceasefire, which continued on Christmas Day, soldiers on both sides emerged from the trenches and shared gestures of goodwill. pic.twitter.com/zaUevQNB5n
— Frank McDonough (@FXMC1957) December 24, 2021
Die Neigung zum „Weihnachtsfrieden“ war im deutschen Heer nicht überall so stark ausgeprägt wie etwa bei den Sachsen und den Bayern, die Preußen hielten sich deutlich strikter an das Reglement. Als sicher gilt, daß nahezu sämtliche Initiativen, die schließlich in Begegnungen mündeten, von den Deutschen ausgingen.
Ein offizieller Waffenstillstand, für den sich auch Papst Benedikt XV. stark gemacht hatte, war nicht geschlossen worden. Das Bedürfnis nach Waffenruhe, bei vielen überhaupt nach einem Ende der Kämpfe, gerade zu Weihnachten, war groß. Alle Seiten hatten lediglich mit einem kurzen Krieg gerechnet. Die hohen Verluste der ersten Monate kamen unerwartet, ebenso das Festsitzen im Schützengraben.
„Und ein eifriges Fußballwettspiel begann“
Laut in Richtung der britischen Stellungen rufend, schlug der sächsische Leutnant Kurt Zehmisch, im Zivilberuf Gymnasiallehrer und des Englischen mächtig, am Heiligen Abend ein Treffen im Niemandsland vor. Bei Warneton an der belgisch-französischen Grenze lag man sich gegenüber. Jeweils zwei Soldaten werden losgeschickt. Nach zögerlicher, vorsichtiger Annäherung folgt schließlich Händeschütteln mit „Merry Chistmas“-Wünschen, man tauschte Zigarren und Zigaretten. Vor allem wurde vereinbart, an diesem Abend und am Weihnachtstag nicht zu schießen. Zehmisch notierte, noch mehr Kerzen als zuvor seien aufgestellt worden, Tannenbäume auf der Brustwehr, „worüber die Engländer (…) durch Zurufe und Händeklatschen ihre Freude ausdrückten“. Die meisten seien die ganze Nacht hindurch wach gewesen. Am nächsten Morgen begruben beide Seiten ihre schon länger vor den Fronten liegenden Toten, was ohne Waffenstillstand nicht möglich war.
Andernorts, bei Fleurbaix, wunderte sich der siebzehnjährige Eduard Toelke vom 6. Westfälischen Infanterieregiment über ein „eigenartiges Bild. Unsere Leute halfen dem Feinde, deren Gefallene zu bergen.“ Über den Nachmittag heißt es dann bei Zehmisch: „Bald hatten auch ein paar Engländer einen Fußball aus ihrem Graben gebracht, und ein eifriges Fußballwettspiel begann“. In der Heimat kam das Ganze nicht unbedingt gut an, Zehmischs Vater ließ wissen, „besonders die Bierpolitiker sprechen sich sehr scharf gegen solche Unternehmen aus“.
Teilweise hielt die Waffenruhe bis in den Januar
Der bayerische Infanterist Josef Wenzl berichtet über den Weihnachtsmorgen: „Alles bewegte sich frei aus den Gräben, und es wäre nicht einem in den Sinn gekommen zu schießen. Was ich vor ein paar Stunden noch für Wahnsinn hielt, konnte ich jetzt mit eigenen Augen sehen. (…) Zwischen den Schützengräben stehen die verhaßtesten und erbittertsten Gegner um den Christbaum und singen Weihnachtslieder.“
Die Beisetzung von Gefallenen war der einzige Beweggrund für den Waffenstillstand, der auch höheren Orts akzeptiert wurde. Alles weitere hätte man gern vermieden. So, daß sich die Kriegsgegner beschenkten oder die aus der Heimat erhaltenen Geschenke tauschten. Daß sie gemeinsam sangen. Es heißt, erst der „Weihnachtsfrieden“ habe dem Lied „Stille Nacht, Heilige Nacht“ in seinen nichtdeutschen Versionen zu Popularität verholfen. Fußballspiele gab es nicht nur bei Zehmisch. Friseure beider Seiten boten an mehreren Orten ihre Dienste an, für alle. Hasen und Rebhühner wurden gejagt, ein Schwein gebraten, aus einer von deutscher Seite beschlagnahmten Brauerei wurden die Briten mit mehreren Fässern Bier versorgt, ein Gaukler trat unter großem Beifall auf. Teilweise hielt die Waffenruhe bis in den Januar hinein an.
Der britische Brigadegeneral Edward Gleichen erklärte, die Deutschen seien aus ihren Schützengräben gekrochen, „mit Zigarrenkistchen und guten Wünschen für ein frohes Weihnachtsfest. Was sollten unsere Männer denn tun? Etwa schießen?“ Auch wenn auf der Führungsebene eine derartig gelassene Sicht kaum geteilt wurde, sah man von Konsequenzen weitgehend ab, was wohl auch an der schieren Zahl der am „Weihnachtsfrieden“ Beteiligten lag, es waren über 100.000. Allerdings wurde dafür Sorge getragen, derartige Vorgänge künftig zu unterbinden.