Am 24. August jährt sich der Todestag Friedrich Naumanns zum einhundertsten Mal. Soweit das Ereignis überhaupt Beachtung findet, ist von Naumann nur in allgemeinen Wendungen die Rede: Naumann als Demokrat, Naumann als Parlamentarier, Naumann als einer der Väter der Weimarer Verfassung. Vielleicht geht es auch noch um Naumann als Namenspatron der FDP-Parteistiftung und als große Gestalt des deutschen Liberalismus.
Indes war Naumann alles andere als ein Liberaler im heutigen Sinn des Wortes: vielmehr ein überzeugter Imperialist, Darwinist, Monarchist und National-Sozialist. Hinzu kommt, daß Naumanns politische Vita nicht zu verstehen ist ohne einen Blick auf seinen religiösen Lebensweg.
Praktisches Christentum
Naumann, 1860 geboren, zählte zu den vielen Begabten, die aus einem evangelischen Pfarrhaus stammten. Sein Entschluß, dem Beispiel des Vaters zu folgen und ein Theologiestudium aufzunehmen, entsprach einem verbreiteten Muster. Aber Naumanns Frömmigkeit war nicht konventionell, sondern persönlich geprägt und keinesfalls quietistisch.
Ihm ging es um ein praktisches Christentum, das sich an der sozialen Realität bewehren sollte. Deshalb nahm er nach dem Ende seiner Ausbildung als Geistlicher eine Tätigkeit für die Innere Mission auf, die es als eine ihrer Hauptaufgaben betrachtete, der Verelendung der Arbeiterschaft entgegenzutreten.
Nur wuchsen bei Naumann und seinen Freunden rasch Zweifel, daß karitative Maßnahmen ausreichen würden. Sie waren fasziniert von den Ideen Adolf Stoeckers und schlossen sich dessen christlich-sozialer Bewegung an. Aber auch das blieb nur eine Zwischenstation. Nach kurzer Zeit kam es zum Bruch zwischen den älteren und den jüngeren Christlich-Sozialen. Die störten sich an der konservativen Starre des ehemaligen Oberhofpredigers Stoecker wie an dessen Fixierung auf Antiliberalismus und Antisemitismus.
Proletariat ins Volksganze integrieren
Die Idee eines „christlichen Sozialismus“ hielt Naumann allerdings noch fest und schloß sich dem 1890 gegründeten Evangelisch-Sozialen Kongreß an, in dessen Rahmen die Anhänger Stoeckers, christliche Gewerkschafter und führende Vertreter des liberalen Protestantismus zusammenarbeiteten.
Das Ziel war bei grundsätzlicher Bejahung der Staatsordnung eine umfassende Reform, die vor allem dazu dienen sollte, das Proletariat in das Volksganze einzufügen. Besonders wichtig wurde für Naumann in dieser Phase die Begegnung mit dem Soziologen Max Weber. Dessen kalt-sezierender Blick auf die Realität hatte allerdings zur Folge, daß Naumann in den folgenden Jahren seine Anschauungen grundsätzlich änderte.
Entscheidend war, daß Naumann das Christentum nicht länger als tragfähige Basis für die Existenz des modernen Individuums und der modernen Gesellschaft betrachtete. 1896 sollte er deshalb auch sein Pfarramt aufgeben. Die dogmatischen Grundaussagen der kirchlichen Lehre wurden ihm nach und nach immer fragwürdiger. An deren Stelle traten für ihn der Glaube an den menschlichen Fortschritt und das darwinistische Prinzip der Auslese. Unter den Umständen der Zeit führte das fast zwangsläufig zur Bejahung von nationalem Machtstaat und imperialer Ausdehnung, um den deutschen „Einfluß auf der Erdkugel auszudehnen“.
Streiter für Demokratisierung und Parlamentarisierung
Die Formulierung stammt aus dem National-sozialen Katechismus, den Naumann 1897 veröffentlichte. Im Vorjahr hatte er den Nationalsozialen Verein (NSV) gegründet. Ein Schritt, den er damit rechtfertigte, daß die Zeit gekommen sei, um eine neue politische Kraft zu organisieren, die als eine Art Katalysator die Blockade der wilhelminischen Innenpolitik überwinden konnte.
Das hieß, daß Naumann die Forderung der SPD nach sozialer Reform zwar anerkannte, aber die antinationale Ausrichtung der Partei für unverantwortlich hielt. Umgekehrt billigte er Konservativen und Liberalen zu, daß sie die Bedeutung der nationalen Kraftentfaltung verstanden hätten – vor allem was den Erwerb von Kolonien betreffe –, aber im übrigen die Illusion pflegten, daß es genüge, die Arbeiterschaft niederzuhalten oder mit Almosen abzuspeisen.
Wenn Deutschland aber im Wettstreit mit den übrigen „steigenden Völkern“ – vor allem den Briten („Wer ‘international’ ist, der mag englisch denken, wer ‘national’ ist, muß antienglisch sein“) – bestehen wolle, bedürfe es der Integration der unteren Volksklassen. Dem Zweck sollte eine umfassende Demokratisierung und Parlamentarisierung dienen, von der Naumann glaubte, daß sie geeignet sei, die Deutschen zu nationaler Verantwortung und politischem Realitätssinn zu erziehen.
Bekenntnis zum deutschnationalen Sozialismus
Naumann meinte, daß angesichts der Ignoranz der Linken wie der Rechten gegenüber den tatsächlichen Herausforderungen nichts übrig bleibe, als eine selbständige und „leistungsfähige Ansammlung nationaler Sozialisten“ zu schaffen: „Wir brauchen einen Sozialismus, der regierungsfähig ist. Regierungsfähig heißt: fähig, bessere Gesamtpolitik zu treiben als bisher. Ein solcher Sozialismus ist bisher nicht vorhanden. Ein solcher Sozialismus muß deutschnational sein.“
Die Idee eines nationalen Sozialismus verbreitete sich an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in fast allen entwickelten europäischen Staaten. In Großbritannien wurden entsprechende Ideen von Teilen der Fabian Society vertreten, in Frankreich wie in einigen Kronländern der Habsburgermonarchie entstanden sogar schon national-sozialistische Parteien. Die blieben allerdings so erfolglos wie Naumanns NSV.
Es gelang dem Verein nur, 3.000 Mitglieder zu sammeln; bei den Wahlen scheiterte er regelmäßig. Trotzdem darf die intellektuelle Strahlkraft nicht unterschätzt werden. Naumann war ein Erfolgsautor. Sein im Jahr 1900 veröffentlichtes, programmatisches Buch Demokratie und Kaisertum, das die plebiszitäre Erneuerung des Hohenzollernstaates im Sinn einer „sozialen Monarchie“ verlangte, löste intensive Debatten aus.
„Lautere, durchsichtige Persönlichkeit“
Aber schon 1903 mußte der Nationalsoziale Verein wegen Erfolglosigkeit aufgelöst werden. Ein Teil der Mitglieder ging zur SPD über, ein anderer schloß sich mit Naumann der Fortschrittspartei an. Aber auch die konnte Naumann nicht zu jener bestimmenden politischen Kraft machen, die er eigentlich schaffen wollte. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg galt er als Mann von gestern.
Nur mit seinem 1915 erschienenen Buch Mitteleuropa, in dem er gegen die radikalen Annexionisten die Vorstellung eines informal empire unter deutscher Führung entwarf, verschaffte ihm noch einmal größere Aufmerksamkeit. Aber die erhoffte Wirkung hatte das so wenig wie sein Bemühen, den deutschen Liberalismus nach der Niederlage zu reorganisieren. Den raschen Verfall der von ihm mitgegründeten Deutschen Demokratischen Partei (DDP) mitzuerleben, blieb ihm wenigstens erspart. Naumann starb mit nicht einmal sechzig Jahren.
Ob es ihm gelungen wäre, dem gegenzusteuern, was den Untergang der Republik herbeiführte, ist fraglich. Letztlich war Naumann das, was man einen „Übergangsmenschen“ nannte, und ihn hinderte gerade das, was sein Charisma ausmachte, daran, tatsächlich in das Geschehen einzugreifen. Einer seiner Weggenossen, der Psychologe Willy Hellpach, hat von Naumanns „lauterer, reinlicher, durchsichtiger Persönlichkeit“ gesprochen, die ihn als Politiker regelmäßig scheitern ließ.
Heuss glaubte an Ideen Naumanns
Ein anderer, ein enger Mitarbeiter, der nachmalige Bundespräsident Theodor Heuss, schrieb allerdings 1932 in seinem Buch Hitlers Weg, daß der Erfolg der NSDAP wohl zu verhindern gewesen wäre, wenn jemand die Idee eines „nationalen Sozialismus“ im Sinne Naumanns aufgegriffen hätte. Ein Gedankengang, der Gegenwart so fremd, daß diese Feststellung auch erklärt, warum Naumann heute nicht einmal mehr zu den bekannten Unbekannten zählt.