Corona, Covid-19, Pandemie – diese Begriffe würden allein ausreichen, um das Jahr 2020 zum aufregendsten seit der Wiedervereinigung zu erklären. Die Pandemie hat alles verändert, und „die Pandemie ist eine demokratische Zumutung“, befand Kanzlerin Angela Merkel am 23. April im Bundestag.
In der Tat gehört es zur Bilanz dieses Jahres, daß einige Fundamente des demokratischen Staates ins Rutschen gekommen sind. Der Bundestag hat das Heft des Handelns weitgehend aus der Hand gegeben. Das mehrfach erweiterte Infektionsschutzgesetz gibt der Bundesregierung und besonders dem Gesundheitsministerium von Jens Spahn (CDU) sehr große Handlungsspielräume, was dieser fast schon arrogant mit der Bemerkung kommentiert: „Das Virus ist der Spielverderber, nicht ich.“
Merkel regiert mit einem in der Verfassung nicht vorgesehenen Gremium von Ministerpräsidenten, in dem der bayerische Landesvater Markus Söder eine herausragende Rolle spielt. Der CSU-Chef hat frühere Zwistigkeiten mit der Kanzlerin beendet; immer häufiger wird spekuliert, er könne der kommende Kanzlerkandidat der Union werden, der erste CSU-Mann seit Edmund Stoiber 2002.
Gigantisches Schuldenprogramm
Informelle Runden bei Merkel bereiten Reiseverbote vor – die ersten seit dem Fall von Mauer und Stacheldraht. Die Einschränkung der Reisefreiheit und die Corona-Einschränkungen, das Zusammenbrechen des Auslandstourismus, Entlassungen und Kurzarbeit für zehn Millionen Menschen wegen der Ladenschließungen führen zu massiven wirtschaftlichen Problemen, erst der Reisebranche und schließlich der gesamten Wirtschaft.
Viele Reisebüros und -konzerne sind am Ende, die traditionsreiche Lufthansa muß mit einer Staatsbeteiligung gerettet werden, der Warenhauskonzern Kaufhof wird insolvent, die Autoindustrie hat Schwierigkeiten, auch weil sie im Kreuzfeuer der einflußreichen Klimawandel-Debatte steht.
Um die Haushalte der europäischen Länder zu retten, läßt die Europäische Zentralbank (EZB) die Notenpressen noch schneller als zuvor laufen. Für über eine Billion Euro übernimmt sie Anleihen, also Schulden europäischer Staaten. Parallel dazu beginnt die Europäische Kommission unter Leitung der Merkel-Freundin Ursula von der Leyen mit einem gigantischen Aufbauprogramm von über 700 Milliarden Euro, das erstmals über Kredite finanziert wird. Im Bundestag wird nur am Rande debattiert, daß alle Dämme zum Schutz der Geldwertstabilität eingerissen werden.
Die Kanzlerin läßt eine Wahl rückgängig machen
Auch nachdem der bayerische Landkreis Starnberg am 27. Januar den ersten Corona-Fall im Land gemeldet hatte, beschäftigt sich Deutschland noch mit anderen Fragen. In Thüringen bringt eine Ministerpräsidentenwahl am 5. Februar den FDP-Politiker Thomas Kemmerich an die Landesspitze. Da Kemmerich ganz offensichtlich auch mit Stimmen der AfD gewählt wurde, bricht in Medien und Politik ein Wutgeheul ohnegleichen aus. Merkel spricht im Befehlston von einer Südafrika-Reise aus von einem „unverzeihlichen“ Ereignis, das rückgängig gemacht werden müsse. Das passiert, Bodo Ramelow (Linke) wird wieder Ministerpräsident.
Im Zuge der Thüringer Ereignisse nimmt CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer am 18. Februar ihren Hut und will auch nicht mehr an Merkels Stelle ins Kanzleramt, falls diese wie angekündigt mit der Bundestagswahl 2021 abtritt. Seitdem dreht sich in der CDU das Personalkarussell. An der Basis besonders beliebt ist Friedrich Merz, Merkel-Feind seit 2002, als sie ihn vom Fraktionsvorsitz im Bundestag stieß. Merz steht aber nicht mit Inbrunst für den vom Parteiapparat gewollten schwarz-grünen Kurs, den seine Mitbewerber Armin Laschet und Nobert Röttgen repräsentieren.
Der als Außenseiter gestartete Röttgen holte zuletzt auf, zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung. Anfang des Jahres 2021 soll in der CDU die Entscheidung fallen, wer die Partei führt und damit nach dem Kanzleramt greifen könnte. Die Delegierten versammeln sich zum ersten digitalen Wahl-Parteitag in der deutschen Geschichte, wie Unions-Generalsekretär Paul Ziemiak stolz verkündete. In Wahrheit läuft der eigentliche Wahlvorgang ganz analog: mit ausgedrucktem Zettel, in einem Umschlag und per Post verschickt.
Richtungsstreit in der AfD
Die Grünen beherrschen lange die politische Debatte, im Zuge der Pandemie verlieren sie jedoch etwas an Schwung. Bei der einzigen Landtagswahl am 18. Februar in Hamburg verdoppeln sie zwar ihr Wahlergebnis auf 24,2 Prozent, kommen aber an die SPD trotz deren Verlusten (39,2 Prozent) nicht heran.
Die AfD kann sich in Hamburg knapp in der Bürgerschaft halten. Der jungen Partei wird von Medien und politischer Konkurrenz auch eine Mitverantwortung für den Massenmord mit neun Opfern in Hanau am 19. Februar zugewiesen. Innerhalb der AfD setzen sich die Konflikte fort bis hinein in den Vorstand. Der „Flügel“ löst sich nicht zuletzt auf Druck aus mehreren größeren Landesverbänden auf, seinem Führungsmitglied Andreas Kalbitz wird die Parteimitgliedschaft aberkannt.
Daß der auch wegen des immer noch guten Hamburg-Wahlergebnisses zum SPD-Kanzlerkandidaten ausgerufene Finanzminister Olaf Scholz Chancen hat, ins Kanzleramt einzuziehen, ist unwahrscheinlich, auch wenn er meint, mit neuen Schulden von fast 400 Milliarden Euro werde man „mit Wumms“ aus der Krise kommen.
Scholz hat Probleme: Aus seiner Hamburger Zeit könnte ihm der Cum-Ex-Steuerskandal bei einer Hamburger Bank auf die Füße fallen, und beim Wirecard-Zusammenbruch, der größten Unternehmenspleite des Jahres mit Aktionärsverlusten von über 20 Milliarden Euro, ist die Rolle der Scholz unterstehenden Finanzaufsicht mindestens fragwürdig.
JF 53/20 – 1/21