Die Grünen-Politikerin Claudia Roth hat die Stationen, die den Reifeprozeß vom Mädchen zur erwachsenen Frau markieren, souverän vermieden: Ehe, Mutterschaft, Familie. Auch einen Beruf hat sie nicht erlernt, nur ein wenig Theaterwissenschaften studiert. Das müßte noch nichts bedeuten, wenn sie auf irgendeinem Sachgebiet einen Befähigungsnachweis erbracht hätte, der sie für eine politische Karriere qualifiziert. Doch nicht einmal ihre Anhänger behaupten, daß sie eine brillante Analytikerin oder eine irgendwo belastbare Expertin wäre.
Ein Foto vom Mai 1990 zeigt sie an der Spitze einer Demonstration hinter einem Transparent mit der Aufschrift „Nie wieder Deutschland“. Keinem kriegerischen, auftrumpfenden Deutschland galt das Verdikt der damals 35jährigen, nein, das ganze Deutschland sollte im Orkus verschwinden. Eine Absolutheit, die eigentlich kennzeichnend für Kinder und Jugendliche ist. Noch heute scheitert jeder Versuch, die politisch-intellektuellen Entwicklungsphasen ihrer Vita zu markieren, an ihrer unwandelbaren Treue zur Unbedingtheit der Jugend.
Sie hat den Drang, sich zu äußern
Ihre Reden, Auftritte und Aktivitäten von 1995, 2005 oder 2015 weisen in Inhalt und Form keine Unterschiede auf. Auch ihre Porträts zeigen durch die Jahre ein ewig besonntes Apfelgesicht. Nur ihre Kleidung ist bunter, schriller, jugendlicher geworden. So vermittelt sie den Eindruck eines großes Mädchens, das erstaunlicherweise an diesem Freitag seinen 60. Geburtstag begeht.
Claudia Roth ist keine maßgebliche, aber auch keine ganz unbedeutende Politikerin. Als Parteivorsitzende wohnte sie den rot-grünen Koalitionsrunden bei. Als Bundestagsvizepräsidentin steht ihr heute die Stellvertretung des protokollarisch zweithöchsten Amtes der Bundesrepublik zu. Wenn sie sich äußert, wird sie im In- und Ausland wahrgenommen und zitiert. Und ihr Drang, sich zu äußern, ist so groß wie ihre Themenpalette.
Mißverhältnisses zwischen persönlichem Format und öffentlichen Ämtern
Sie reicht von der Energiepolitik über Rußland, den Iran, den EU-Beitritt der Türkei, dem Islam bis zu Griechenland und zur illegalen Einwanderung, die sie am liebsten in eine legale umgewandelt sehen möchte. Die fehlende Sachkenntnis kompensiert sie durch den Modus permanenter Aufgeregtheit, die von ihren Anhängern als Zeichen verzehrender Empathie gepriesen wird. Ihre Kritiker verspotten sie als „Bundesempörungsbeauftragte“, was ihr aber nicht schadet, sondern ihrem medialen Erscheinungsbild einen weiteren Farbtupfer hinzufügt. Die Talkshow-Arena verläßt sie stets wie eine Siegerin der Geschichte.
Fleiß, Machtinstinkt und Bauernschläue – anstelle von Intellektualität – wird man ihr nicht absprechen können. Auf einer tieferen Niveauebene gilt auch für sie, was man über Angela Merkel sagt: Wer sie unterschätzt, hat schon verloren. Trotzdem ist ihr Karriereerfolg angesichts des Mißverhältnisses zwischen persönlichem Format und öffentlichen Ämtern erklärungsbedürftig.
Fremdschämen ist angesagt
Roth verkörpert und bedient den Weltanschauungskonsens der Bundesrepublik in einer Art, die auf den ersten Blick unbedarft wirkt, sich auf den zweiten aber als besonders aggressiv, einschüchternd und durchschlagend herausstellt. Was gewöhnlich Fremdschämen auslöst: das kenntnisfreie Drauflosreden, die Ablösung des sachlichen durch das moralisierende Argument, der schmale Horizont, der als „Weltoffenheit“ angepriesen wird, die Infantilisierung des Politischen überhaupt, gelten mittlerweile als Belege für Authentizität, Direktheit und Basisnähe.
Claudia Roth personifiziert Fehlentwicklungen, die längst institutionalisiert und internalisiert sind. Es ist deshalb sinnlos, ihre Person zu kritisieren und anzugreifen. Um sie gesprächsweise zu widerlegen, müßten zuerst die Bedingungen analysiert werden, die es ihr ermöglicht haben, zu einer öffentlichen Person zu werden. Während einer Talkshow ist das ein Ding der Unmöglichkeit.
Auf Widerspruch reagiert sie mit dem „Nazi!“-Ruf
Tatsächlich ist sie eine repräsentative Person. Sie ist in verschränkter Weise das weibliche Gegenstück zu Oskar Matzerath aus der „Blechtrommel“ von Günter Grass. Matzerath entschließt sich als Dreijähriger, nicht mehr zu wachsen, während sein Geist sich bereits auf dem Stand eines Erwachsenen befindet. Roth ist äußerlich eine erwachsene Frau, welche die Kindlichkeit im Geiste zu ihrem Markenzeichen gemacht hat. Allerdings hat die Kunstfigur einen unfreiwilligen Haken: Matzerath ist auch der Weltanschauungsträger seines Autors, der den Nationalsozialismus und den Weltkrieg komplett aus deutschem Kleinbürgermuff zu erklären versucht.
Mit dieser geistigen Engführung ist der protestierende Gnom selber zum Vertreter der politisch-weltanschaulichen Infantilität, gegen die er eigentlich angehen will, und gleichzeitig zur prospektiven Leitfigur der Bundesrepublik geworden. Der ohrenbetäubende Lärm, den er auf der Blechtrommel veranstaltet, und sein glaszerschneidender Schrei, mit dem er die Ermahnungen der Erwachsenen pariert, nehmen das antifaschistische Politik- und Mediengetöse vorweg, mit dem heute das Publikum auf den Tugendpfad geführt werden soll.
Die Parallele zu Claudia Roth ist evident: Unentwegt schlägt sie auf die Pauke der Hypermoral, wobei es auf den Lärm und nicht auf Takt- und Rhythmusgefühl ankommt; auf Widerspruch reagiert sie mit dem ohrenzerfetzenden „Nazi!“-Ruf. Beides setzt sie so bösartig und machtbewußt ein wie das Oskarchen sein Trommeln und Schreien. Was aber sagt ihr Erfolg über eine Gesellschaft aus, in der so etwas möglich ist?
JF 21/15