Als wir tiefer in die noch befestigte Stellung geführt werden, verliert der Krieg jede Abstraktion. Der Übergang ist fließend, fast unmerklich: eben noch Bewegung, Gespräch, dann plötzlich das langsame Ankommen an einem Ort, der nichts anderes ist als die letzte Verteidigungslinie. Ein paar alte Häuschen, Wellblech, Draht, Metall und der Wille der Männer, die hier ausharren.
Der Pick-up, den Schramm aus Lemberg mitgebracht hat, wird übergeben, beinahe beiläufig, ohne Zeremonie, ohne große Worte. Ein kurzes Nicken, ein prüfender Blick, ein paar technische Fragen. Unsere Schlafplätze werden uns gezeigt. Mehrere einfache Pritschen, zusammengezimmert, ein paar Schlafsäcke. Mehr Komfort, als man glaubt. Unsere kleine deutsche Gruppe besteht aus drei Personen, und wir werden ohne jede Distanz aufgenommen. Geteilt wird das, was da ist, und man kommt schnell ins Gespräch, als die Dunkelheit sich herabsenkt.
Am Abend sitzen wir zusammen. Gegrilltes Fleisch, einfache Pfannkuchen, aber mit einer Selbstverständlichkeit geteilt, die mehr sagt als lange Erklärungen. Der Soldat mit dem Spitznamen „Feyda“ bereitet alles vor, bittet uns zu Tisch. Die Soldaten haben ein Mitteilungsbedürfnis. Wezyk, Feyda, Psych, Bozmann – die ukrainischen Kameraden Schramms teilen alles mit uns in Gastfreundschaft. Hinter den müden, abgekämpften Gesichtern tobt ein Sturm von ungelebter Emotion. Ich stelle irgendwann die Frage, wie sie sich fühlen. Die Antwort kommt sofort, ohne Zögern: „Scheiße.“ Kein Lachen, kein Nachsatz. Über allem hängt eine Erschöpfung, die nicht nur körperlich, sondern seelisch geworden ist.
Regierung kommt bei Soldaten nicht gut weg
Im Laufe des Essens wird deutlich, wie schwer das Leben in der Ukraine geworden ist. Der Soldat mit dem Kampfnamen „Bozmann“ spricht davon, daß es unter Viktor Janukowitsch, so korrupt er auch gewesen sei und so notwendig sein Sturz aus Sicht vieler Ukrainer war, für einfache Leute einfacher gewesen sei. Die Währung, die Hrywnja, war mehr wert. Man konnte planen, wenigstens ein bißchen. Heute reicht die Rente für viele Alte kaum noch zum Überleben. Viele leben von der Hand in den Mund, jeden Tag neu, ohne Reserve, ohne Sicherheit. Es ist keine nostalgische Verklärung, sondern eine nüchterne Feststellung. Niemand hier verteidigt Janukowitsch. Aber niemand behauptet, daß es heute einfacher wäre.
Über die aktuelle Regierung fällt kein gutes Wort. Selenskyj, Jermak, die Namen fallen, begleitet von Schulterzucken, von bitterem Lächeln, von offenem Zynismus. „Das sind Arschlöcher“, sagt einer, und es bleibt unwidersprochen. Auch frühere Regierungen kommen nicht besser weg. Der Konsens scheint zu sein, daß alle Regierungen korrupt sind, auf die eine oder andere Weise. Damit hat man sich abgefunden. Es ist kein Thema, das noch Empörung auslöst, eher Resignation.
Aber eines wird immer wieder klar gemacht: Dafür kämpfen sie nicht. Einigkeit herrscht unter den Soldaten auch in einem weiteren Punkt. Sollte es zu neuen Wahlen kommen und General Walerij Saluschnyj antreten, so sind sie überzeugt, würde eine klare Mehrheit der Ukrainer ihm ihre Stimme geben und nicht mehr Wolodymyr Selenskyj.
Ukraine mobilisiert eher zurückhaltend
Die Russen können diesen Frontabschnitt vor allem deshalb permanent unter Druck setzen, weil sie über deutlich mehr Personal verfügen, insbesondere über mehr Infanterie, und weil sie bereit sind, Menschen in einer Weise einzusetzen, die für die ukrainische Seite kaum zu kompensieren ist. Es fehlt der Ukraine nicht an Männern im Land, sondern an der Fähigkeit und Bereitschaft, sie tatsächlich an die Front zu bringen und dort zu halten. Die Mobilisierung funktioniert nur begrenzt, viele werden gar nicht erst einberufen, andere tauchen unter, wieder andere desertieren – ein offenes Geheimnis, über das hier niemand moralisch urteilt, sondern das man fast fatalistisch zur Kenntnis nimmt.
Für die Einheiten der territorialen Verteidigung in dieser Region bedeutet das: zu wenig Leute, zu lange Einsätze, zu hohe Belastung. Vor allem stockt die Rotation. Die Männer sitzen hier fest, Woche um Woche, Monat um Monat, ohne echte Pause, ohne die Möglichkeit, einmal wirklich rauszukommen, nach Hause zu fahren, ihre Familien zu sehen, wieder so etwas wie ein normales Leben zu spüren. Heimaturlaub im eigentlichen Sinne existiert kaum, und selbst kurze Unterbrechungen sind selten. Was man den Männern ansieht. Was sie bräuchten, wären nicht ein paar freie Tage, sondern Monate außerhalb der Front, ein halbes Jahr vielleicht, um wieder zu Kräften zu kommen, um den Krieg wenigstens zeitweise aus dem Kopf zu bekommen.
Stattdessen bleiben sie hier, bis Körper und Geist gleichermaßen erschöpft sind. Man sieht es in ihren Gesichtern, in den Bewegungen, in der Art, wie sie sprechen. Es ist kein heroischer Erschöpfungszustand, sondern ein leiser, gefährlicher Verschleiß. Diese Soldaten haben keine Kraft mehr, den Krieg ständig vor Augen zu haben, ständig in Alarmbereitschaft zu leben, ständig mit dem Wissen aufzuwachen, daß der nächste Tag der letzte sein könnte.
„Wir haben keine Wahl“
Warum also kämpfen sie? Die Antwort kommt nicht pathetisch, nicht einstudiert, sondern klar und fast trotzig. Der Soldat mit dem Rufnamen „Psych“, Vater von zwei Kindern, seit fast neun Jahren im Krieg, spricht energisch mit Schramm, der jede Antwort und Frage mühsam aus dem lokalen Dialekt Surschyk übersetzen muß. Sie kämpfen „für unsere Familien und für das, was wir uns hier aufgebaut haben“. Psych bedauert, daß viele Ukrainer, die eine gute Ausbildung haben, nach Westeuropa gegangen sind. Er hingegen will bleiben – in seiner Heimat.
Für ihre Kinder. Für ihre Häuser, ihre Höfe, ihre Dörfer. Für ihre Heimat. Für ihr Vaterland. Nicht für Kiews Regierung, nicht für Politiker. „Nasha Ukraina.“ Unsere Ukraine.
Alle am Tisch sagen, daß sie nach dem Krieg hierbleiben wollen. Egal, wie er endet. Egal, was kommt. Sie wollen nicht weg. Sie wollen nicht nach Polen, nicht nach Deutschland, nicht in irgendein anderes Land. Sie wollen hier leben, in diesem Land, das sie kennen, das sie lieben, auch wenn es sie im Moment fast zerbricht. Der Wunsch nach einem Ende des Krieges ist allgegenwärtig. Niemand hier sehnt sich nach weiteren Kämpfen. Im Gegenteil. Die Männer sind müde, körperlich, seelisch, bis an die Grenze des Erträglichen. Viele kämpfen seit Jahren, manche seit fast einem Jahrzehnt. Sie können nicht mehr. Und dennoch sagen sie immer wieder denselben Satz: „Wir haben keine Wahl.“
„Die Ukraine ist doch schon verkauft“
Dieser Satz fällt mehrfach im Verlauf des Abends. „Wir haben keine Wahl.“ Nicht, weil sie kämpfen wollen, sondern weil die Alternative für sie keine ist. Niemand hier glaubt ernsthaft daran, daß ein Niederlegen der Waffen Frieden, Wohlstand oder Sicherheit bringen würde. Niemand glaubt an russische Versprechen von brüderlicher Freundschaft. Zu viel haben sie gesehen, zu viele Orte kennen sie, in denen die russische Armee durchgezogen ist. Häuser, die dem Erdboden gleichgemacht wurden. Dörfer, die aufgehört haben zu existieren. Kein Stein bleibt auf dem anderen. Jeder weiß: Wenn sie hier aufhören, kommt nichts Besseres nach. Ein Frieden, wenn er kommt, muß die russische Armee stoppen.

In dieser Nacht, in diesen Stellungen, wird deutlich, daß dieser Krieg für die Männer hier kein geopolitisches Schachspiel ist, sondern eine existentielle Notwendigkeit. Sie kämpfen nicht aus Begeisterung, sondern aus Verantwortung. Nicht aus Hoffnung auf den Sieg, sondern aus Angst vor dem, was kommt, wenn sie nicht mehr hier stehen. Und während draußen irgendwo Artillerie grollt und Drohnen durch die Nacht summen, liegt über allem ein Gefühl von bitterer Klarheit: Dieser Kampf ist für sie alternativlos, auch wenn er sie langsam aufzehrt.
Was sie sich wünschen, ist kein Triumph. Es ist ein Ende. Ein Ende des Sterbens. Und die Hoffnung, daß das, wofür sie hier ausharren, eines Tages wieder ein normales Leben wird. „Die Ukraine ist doch schon verkauft, und jeder weiß es“, sagt Bozmann. Die Verbitterung in seinen Worten schmerzt auch uns als Beobachter.
Schrotflinte rettet die Gruppe vor Drohne
In den späten Abendstunden reagieren die ukrainischen Soldaten auf eine Warnung ihrer Kameraden über Funk. Eine russische ballistische Rakete sei gestartet worden, ihre Flugbahn deute in unsere Richtung. Die Ukrainer verfügen über technische Möglichkeiten, solche Starts frühzeitig zu erkennen, über Warnketten, über Erfahrung und Aufklärung – doch das Wissen darum beruhigt nur bedingt, denn zwischen Warnung und Einschlag liegen oft nur Minuten, manchmal Sekunden. An diesem Abend schlägt die Rakete nicht über unseren Köpfen ein, irgendwo anders frißt sie sich in die Erde, und für einen kurzen Moment kehrt eine trügerische Ruhe ein. Wir bereiten uns darauf vor, schlafen zu gehen, die Erschöpfung des Tages liegt schwer in den Gliedern, als sich die Situation schlagartig ändert.
Gegen 22.10 Uhr reißt uns plötzlich Bewegung aus der Starre: Schramm stürmt in die Schlafunterkunft, hastig, mit einer Dringlichkeit, die keinen Widerspruch duldet, ruft uns zu, wir sollen sofort in Deckung gehen. Kaum sind die Worte ausgesprochen, hören wir dieses Geräusch, das hier jeder kennt und das sich unauslöschlich ins Gedächtnis brennt – ein kurzes, sirrendes Surren, das verrät, daß sich eine Drohne nur wenige Meter über unseren Köpfen bewegt. Dann plötzlich mehrere dumpfe, harte Schüsse in nahezu völliger Dunkelheit. Zwei, drei, vier Schläge. Es ist kein charakteristisches Knattern einer Kalaschnikow, sondern das rohe, kurze Donnern einer automatisierten Schrotflinte.
Instinktiv ziehen wir die Köpfe ein, weichen hastig zurück, stolpern förmlich in eine andere Position, suchen Schutz, ohne genau zu wissen, was im nächsten Moment geschieht. Erst Minuten später wird klar, wie knapp wir dem Tod entgangen sind. Bozmann, der ukrainische Soldat mit den müden Augen, hatte in dieser Sekunde schnell reagiert. Eine russische FPV-Drohne hatte – ob durch einen Fehler unsererseits oder schlicht durch Zufall – unsere Position aufgeklärt und uns als Ziel ausgewählt. Diese kleinen, schnellen Geräte, bestückt mit Sprengladungen, sind der wahre Schrecken dieser Front, der größte Killer für beide Seiten. Bozmann hatte sie gehört, erkannt und im richtigen Moment gehandelt. Die Schrotflinte schoß die Drohne aus der Luft, bevor sie einschlagen konnte.
„Dieser Scheißkrieg soll enden“
In dieser Nacht wird uns bewußt, wie dünn die Linie ist, die hier zwischen Leben und Tod verläuft, und wie sehr das Überleben oft an Sekunden, an Erfahrung und an der Entschlossenheit einzelner Männer hängt. Schramm präsentiert später die Reste der beschädigten Drohne, die Stelle, wo die Schrotflintenmunition Rotorblätter abgerissen hat, und auch den Sprengsatz, der mit Klebeband behelfsmäßig befestigt wurde. Provisorisch, aber ausreichend tödlich für drei Leichensäcke irgendwo im ostukrainischen Nirgendwo.
Wir bedanken uns bei Bozmann, doch er reagiert kaum darauf. Er zuckt nur mit den Schultern, als sei nichts Besonderes geschehen, setzt sich wortlos hin, zieht müde seine Ausrüstung aus und legt sich schlafen. Für ihn war es kein Ausnahmezustand, kein dramatischer Moment, sondern schlicht ein weiterer Tag an diesem Frontabschnitt.

Dieser Gedanke trifft uns härter als alles andere: Wir sind nur Besucher, wir sind nur für zwei Tage hier. Er hingegen lebt seit Jahren in dieser Wirklichkeit, Nacht für Nacht, ohne Pause. Am Abend sinken die Soldaten in einen Schlaf, der eher einem Wegsacken gleicht. Einige schnarchen sofort, andere telefonieren noch leise mit Verwandten, mit Frauen, Kindern, Eltern, oft so lange, bis ihnen das Handy aus der Hand fällt.
Über allem liegt ein fernes, dumpfes Grollen, das immer wieder durch die Nacht rollt – Artillerie, irgendwo da draußen. Doch es weckt niemanden mehr. Die Männer haben gelernt, selbst diesen Klang auszublenden. Der Krieg ist für sie kein Ausnahmezustand mehr, sondern Hintergrundrauschen ihres Lebens. „Dieser Scheißkrieg, er soll sofort enden, richtig enden“, sagt Bozmann auf die Frage, was sein innigster Wunsch sei.
Am nächsten Morgen, im schweren Regen, der in dichten Schleiern vom Himmel fällt und die Stellung in grauen Nebel hüllt, beschließen, wir abzureisen. Die Verabschiedung fällt herzlich aus, ruhig, beinahe familiär. Man klopft sich auf die Schultern, umarmt sich kurz, sagt wenig. Als der Regen für einen Moment nachläßt und der Nebel aufreißt, machen wir noch ein Foto am Pick-up. Tim Schramm zieht ein letztes Mal seine alte Uniform an und steht neben seinen ehemaligen Kameraden. Man sieht ihm an, wie nahe ihm dieser Moment geht; es ist kein Pathos, keine Pose, sondern ein stilles Wiedersehen mit einem Teil seines Lebens, der ihn geprägt hat.
Regen begleitet den Abschied
Mir selbst sind währenddessen Worte vom Vorabend präsent, als wir drei Deutschen gefragt wurden, ob die Ukraine zu Europa gehöre. Unser deutscher Begleiter aus Odessa antwortete nach kurzem Nachdenken, klug und ehrlich, die Ukraine gehöre für ihn zu Europa, ob sie zur Europäischen Union gehöre, könne er nicht sicher sagen. Die Ukrainer nickten und ergänzten, man wolle weder von Amerika noch von Rußland herumkommandiert werden, sondern schlicht ein unabhängiges, freies Land sein, das über sein eigenes Schicksal entscheidet.
Und doch, dieses Gefühl, zu Europa zu gehören, war in jedem Satz spürbar. Als wir schließlich losfahren, begleitet vom Regen und den letzten Blicken der Soldaten, bleibt ein seltsames Gefühl zurück, ein Feigling zu sein, weil man diese Männer im Regen und in den Stellungen zurückläßt, während man selbst wieder zurückfährt in den Westen, zu warmen Duschen, weichen Betten und der vermeintlichen Sicherheit in Mitteleuropa.
„Einfach mal duschen, sich waschen können“, gab uns Bozmann noch auf den Weg als Wunsch, was Schramm noch für seine alten Kameraden tun könnte. Er versprach, wiederzukommen und etwas für sie zu organisieren.
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Ferdinand Vogel führt auf Instagram ein photographisches Erlebnistagebuch, dass den Ukrainekrieg dokumentiert: https://www.instagram.com/vogel.ferdinand/
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