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Krise in der Ukraine: „Wir haben nicht geschossen“

Krise in der Ukraine: „Wir haben nicht geschossen“

Krise in der Ukraine: „Wir haben nicht geschossen“

Ausgebrannte Kaserne in Lemberg
Ausgebrannte Kaserne in Lemberg
Gendarmen vor der ausgebrannten Kaserne der „Vnutrishni Vijsska“ in Lemberg: Es gab keinen Schießbefehl Foto: Billy Six
Krise in der Ukraine
 

„Wir haben nicht geschossen“

Während die Welt gebannt auf die Ereignisse auf der Krim blickt, radikalisiert sich auch die Stimmung im Westen des Landes. Aus Lemberg berichtet JF-Reporter Billy Six.
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„Die waren gut organisiert“, berichtet Sergej, ein junger Gendarm, vor seiner ausgebrannten Kaserne der „Vnutrishni Vijsska“ (Streitkräfte des Innenministeriums) im Süden der 700.000-Einwohner-Stadt Lemberg. Etwa 10.000 Protestierer seien unverhofft aufgetaucht, als zeitgleich in Kiew die Gewalt eskalierte, und hätten nach wüster Randale das Gebäude in Brand gesetzt. „Wir haben nicht geschossen“, sagt Sergej, „sondern uns in den hinteren Teil des Kasernenareals zurückgezogen.“

Im übrigen habe es seitens der Regierung auch keinen Schießbefehl gegeben. Die Einheiten seien gut durchmischt und kämen aus allen Teilen des Landes. Insofern ist die Lage anders als in Libyen, wo die Streitkräfte nach Regionalproporz verteilt waren und somit schnell eine Lager-Bildung auftreten konnte.

Zwei Tote beim Angriff auf eine Kaserne

Sergej: „Von hier haben diese Leute keine Waffen.“ In der nahe gelegenen Kaserne der „Berkut“, deren Auflösung die Übergangsregierung unlängst verkündet hat, gab es zwei Tote. Soweit besteht Einigkeit in den Berichten. Angeblich hätten die Soldaten mit einem bewußt gelegten Feuer wütende Lemberger davon abhalten wollen, Waffen und Dokumente zu erbeuten – und seien dann beim Einsturz einer Wand selbst umgekommen. Belege gibt es dafür keine.

Aktivistinnen bereiten Gedenk-Kerzen für die Revolutionsopfer vor: Foto: Billy Six
Aktivistinnen bereiten Gedenk-Kerzen für die Revolutionsopfer vor: Foto: Billy Six

Aber auch nicht für die andere Version, daß Unbekannte eine Granate geworfen hätten. Besorgte Anwohner haben sich in Schichten um die Militärareale postiert. „Wir passen auf, daß sie keinen Einsatz gegen das Volk starten.“ Dennoch: Angesichts der Ungewißheit hat die Nervosität zugenommen. Niemand in Lemberg will eine Teilung der Ukraine, auch wenn die „passive und unterwürfige Art“ der Menschen im Osten nicht nachvollzogen werden kann.

 Das Geld wird im Osten des Landes verdient

Das Problem: Die Universitätsstadt Lemberg mag herausgeputzt sein – doch das Geld wird im industrialisierten Osten verdient. Ohne massive EU-Subventionierung wäre im Moment eine möglicherweise unabhängige West-Ukraine nicht überlebensfähig. In einem von rund 20 Anwohnern besetzten Barrikadenposten berichtet ein Mann von seiner Zeit als Rotarmist in der DDR: „Ich habe Ingenieurwesen studiert. Jetzt bin ich 42, habe zwei Kinder. Und was muß ich arbeiten? Als Taxifahrer. Ihr Deutschen habt doch dieses markante Wort dafür: Scheiße.“ Disziplin herrscht dennoch.

Verwüstete Polizei-Wache in der Martovycha-Straße: Es riecht verbrannt Foto: Billy Six
Verwüstete Polizei-Wache in der Martovycha-Straße: Es riecht verbrannt Foto: Billy Six

Die 1.300 Gewehre, darunter viele 9mm-Pistolen und einige Kalaschnikows, die beim Aufruhr erbeutet wurden, stammten aus diversen Polizeistationen, darunter jener in der innerstädtischen Martovycha-Straße. Noch heute sind die Folgen der Eroberung durch wütende Einwohner sichtbar: Akten und Möbeltrümmer stapeln sich vor dem besetzten Gebäude, es riecht verbrannt.

Sturm auf das Gefängnis

Alle Gefängniszellen sind offen. Aktivisten berichten, mittlerweile würden Kriminelle an „vertrauenswürdige“ Wachen in den umliegenden Dörfern gebracht. Von der Umsetzung eines Schattenstaates kann jedoch noch nicht gesprochen werden, auch wenn einige Revolutionäre diese Idee gut finden.

Der 32jährige Entwicklungskoordinator Bohdan, ein Kontaktmann für EU-Projekte, sieht in Lemberg gar Zeichen der Deeskalation: „Die Autoritäten haben bekannt gegeben, daß 950 Waffen freiwillig zurückgebracht worden sind. Damit gehen die Plünderer straffrei aus.“

Rechte und Linke demonstrieren für nationale Einheit

Mit Blick auf die Revolution warnt er jedoch, sich zur Ruhe zu setzen: „Nach der Orangenen Revolution von 2004 haben wir uns zurückgelehnt und hofften, daß Präsident Juschtschenko alles regeln wird. Tatsächlich war er zu weich. Das Mafiasystem und die Korruption sind zurückgekehrt.“

Rund zweihundert ukrainische Linksextremisten marschieren vor die Oblast-Regionalverwaltung: „Bekenntnis zur Nation“ Foto: Billy Six
Rund zweihundert ukrainische Linksextremisten marschieren vor die Oblast-Regionalverwaltung: „Bekenntnis zur Nation“ Foto: Billy Six

Der gemeinsame Feind hat einst widerstreitende politische Lager zusammengeführt. Sogar die Radikalen von rechts und links. Bei einem lautstarken, aber friedlichen Aufmarsch des „Autonomen Widerstands“, der ukrainischen „Antifa“, sind Überraschungen zu vernehmen wie das „Bekenntnis zur Nation“. Die Sprecher Kristina und Zenon betonen, nur der Zusammenhalt aller ukrainischen Arbeiter aus Ost und West könne das Land vor dem Zugriff der „kapitalistisch-imperialistischen Kräfte“ aus Rußland und der EU schützen.

Sie zeigen das Bild einer ukrainischen Kampfbrigade in Tschetschenien und nennen es einen „Einsatz zur Unterstützung eines unterdrückten Volkes“. Freiheit von jeder Autorität sei das Ziel. Damit sind sich diese Autonomen derzeit auch einig mit den Jugendaktivisten des „Rechten Sektors“. Aber: „Jede nationale Unabhängigkeit bedeutet nichts, wenn soziale Versklavung herrscht“, sagt Kristina.

Gendarmen vor der ausgebrannten Kaserne der „Vnutrishni Vijsska“ in Lemberg: Es gab keinen Schießbefehl Foto: Billy Six
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