Er galt als „kantig“ und war es auch. Otto Graf Lambsdorff, der am vergangenen Sonnabend in einem Bonner Krankenhaus kurz vor Vollendung des 83. Lebensjahres verstarb, konnte sich über einen Mangel an charakterisierenden Beschreibungen nicht beklagen. Der „Marktgraf“ wurde besonders bekannt und traf damit auch seine spezifischen Interessen. Die soziale Marktwirtschaft war der Angelpunkt seines politischen Denkens. Alles andere wurde davon abgeleitet. Die Jahre 1977 bis 1984 als Wirtschaftsminister unter den Bundeskanzlern Schmidt (SPD) und Kohl (CDU) waren für ihn persönlich sicherlich die wichtigsten.
Zu dieser Zeit hatte er schon einiges erlebt. Aus einer baltendeutschen Adelsfamilie mit westfälischen Wurzeln stammend, in Aachen geboren, aber in Berlin aufgewachsen und an der Ritterakademie in Brandenburg durchaus standesgemäß erzogen, wurde er noch Ende des Krieges eingezogen, schwer verwundet und verlor ein Bein. Seitdem war der Krückstock mit silbernem Knauf ein weiteres Markenzeichen von ihm. Es folgten Jurastudium, 1951 der Eintritt in die FDP und eine rasche Karriere als Bankier und in der Versicherungswirtschaft. In der nordrhein-westfälischen FDP, die damals noch nationalliberal geprägt war, übernahm er das Amt des Schatzmeisters.
Er wußte immer, wo man Macht ausüben konnte. Dem Autor dieser Zeilen, der ihm Anfang der siebziger Jahre im NRW-Landesvorstand begegnete, sind die Sitzungen unvergeßlich, in denen der Haushaltsplan des FDP-Landesverbands beschlossen wurde: Der Entwurf wurde als Tischvorlage verteilt. Die Vorstandsmitglieder lasen ihn durch. Notizen machen war nicht erwünscht. Fragen durfte man stellen. Sie wurden aber nur beantwortet, wenn sie harmlos waren. Nach der Beschlußfassung wurden die Papiere wieder eingesammelt. Für die Partei wurde dann eine kurze Mitteilung herausgegeben. Vermutlich war das nicht nur in der FDP die damals übliche Methode der Beschlußfassung.
Von 1972 bis 1998 gehörte Otto Graf Lambsdorff dem Bundestag an. 1982 betrieb er zusammen mit Hans-Dietrich Genscher die koalitionspolitische „Wende“ – weg von der SPD, hin zur CDU/CSU – nicht nur aus sicherheits-, sondern auch aus wirtschaftspolitischen Gründen. 1984 trat Lambsdorff als Bundesminister zurück, weil ihm Bestechlichkeit und Steuerhinterziehung (im Interesse der Partei) vorgeworfen wurden. Letztlich blieb es bei einer Geldstrafe wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung. Seine Parteikarriere schien dennoch beendet.
Die FDP-Basis stand jedoch weiter hinter diesem treuen Parteisoldaten, der soviel für sie riskiert hatte. 1988 wurde Graf Lambsdorff zum Bundesvorsitzenden gewählt und erlebte in diesem Amt die Wiedervereinigung und die Fusion der FDP mit den DDR-Parteien LDPD und NDPD.
Noch 1987 hatte er öffentlich einen Vorstoß zugunsten einer operativen Wiedervereinigungspolitik unternommen, der aber von der Parteiführung abgeblockt wurde. Lambsdorff stellte seine Initiative zurück, als sich seine Wahl zum Bundesvorsitzenden abzeichnete und zur Vorbereitung ein Besuch bei Erich Honecker mit Fototermin zweckmäßig erschien. 1990 hat er auf dem Vereinigungsparteitag ausdrücklich bedauert, daß die FDP sich nicht früher zu einer aktiven Vereinigungspolitik hatte entschließen können.
Konsequent blieb Lambsdorff immer dann, wenn es um die Wirtschaft ging. Bei anderen Fragen machte er durchaus Konzessionen, die schwer nachzuvollziehen waren. Bei der Abstimmung im Bundestag über die Verlegung der Hauptstadt nach Berlin votierte er für Bonn – mit Rücksicht auf seinen benachbarten Wahlkreis Euskirchen, ebenso wie der Bonner Guido Westerwelle. Natürlich wurden beide dennoch nicht direkt gewählt. Aber bei Otto Graf Lambsdorff, dem Bismarck-Verehrer und Absolventen der Ritterakademie, war das für viele schon eine Enttäuschung. Später hat er sich allerdings sehr für den Erhalt des Doms in Brandenburg eingesetzt. Nun wird dort die Trauerfeier für ihn stattfinden.